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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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stehlicher Gewalt und trafen tief in die Seele, wenn sie auch mehr Verehrung
als Liebe zu erwecken wußten. Unter ihrem harten und widerwärtigen Vater
hatte sie viel zu leiden, bis dieser 1787 die Seinigen durch den Tod von
einer schweren Last befreite.

Als der Bruder ihr 1774 einen Gruß von Goethe schickt, antwortet sie,
is. Dec.: "Die Freude, daß ein Goethe weiß, daß auch ich existire, sogar
an mich schreibt'--mir ist noch, als wenn ich träumte, ob ich wol den Brief
schon ganz auswendig weiß." So wirkte schon damals der Zauber dieses
Mannes auch in die Ferne. In jedem Bries erkennen wir das unauslösch¬
liche Gepräge, daß dieser überlegene Geist den Seinigen aufdrückte. Als ein¬
mal Henriette über Verlornes oder nicht gefundenes Glück klagt, tröstet sie der
Bruder (28. Nov. 1784) durch Goethes Lebensphilosophie. "Der Mensch ist
weder zum Glück noch zum Unglück geschaffen; er ist geschaffen, daß er da
sei; die Ordnung der Dinge rief ihn hervor. Das Schicksal, das ihn von
außen treibt, legt ihn zwischen wechselseitige Schalen. Jedem ist nach seinem
Maß eine gute Portion Glück zugetheilt, das er sich nicht gegeben hat; jedem
eine fast unvermeidliche Portion Elend. Selbst dem Unglücklichsten ist ost da
Hilfe, Glück und Genuß zugetheilt, wo wir es nicht errathen, kaum selbst
für ihn suhlen können -- z. B. die Zufriedenheit, die ein Mathematiker bei
einem schwer ausgelösten Problem findet; während dem Glücklichen ein un¬
vermeidlich Elend kommt, wo er es nicht voraussehn konnte. Dieses Gesetz
erhalt den Menschen in einer steten Achtsamkeit und Spannung. Er hat stets
Ursache zu hoffen und zu fürchten; das Unwahrscheinlichste ist doch möglich
und hat sich schon ereignet, und das Glück, worauf er am sichersten baute,
ist vor seinen Augen verschwunden. Durch diese Nothwendigkeit zieht sich ein
elektrischer Faden, der das Gute von den Dingen zu erhalten sucht und an
sich reißt, und das Böse von sich stößt. Das ist die Kraft des Geistes. Sie
beweist sich darin, daß sie das Gute fixirt und deshalb, obgleich allem zu¬
fälligen Glück bereit, dennoch nichts zuläßt, was ihr das Gefühl davon zu
einer andern Zeit benehmen könnte. Dadurch erhält sie sich in der glücklichen
Flut des Daseins gemächlich und bewußt, sind hingegen die Wasser enger
und trüber, und sinken zur Ebbe, so wird sie nicht so leicht mit vom Ufer
weggetrieben. Sie hat sich vieler dauerhaften Dinge bemeistert, die ihr das
Schicksal nicht nehmen kann, ihr Geist selbst ist frei und thätig, wie Uluß
in den Meereswogen; sie hat ruhig dulden gelernt und wird also zur Zeit
des zögernden Schicksals nicht erdrückt, und was sie nun noch verlieren kann,
sind meist nur Spiele, die sie nie anders betrachtet, und die sich zur Zeit
des Glücks leicht wieder anhängen." -- "Die Fluten des Lebens sind in der
Jugend weit gefälliger; das Leben wird strenger, je länger es sich lebt. Es
wird immer weniger gleichgiltig gegen das, was man sich erwirbt, weil es


stehlicher Gewalt und trafen tief in die Seele, wenn sie auch mehr Verehrung
als Liebe zu erwecken wußten. Unter ihrem harten und widerwärtigen Vater
hatte sie viel zu leiden, bis dieser 1787 die Seinigen durch den Tod von
einer schweren Last befreite.

Als der Bruder ihr 1774 einen Gruß von Goethe schickt, antwortet sie,
is. Dec.: „Die Freude, daß ein Goethe weiß, daß auch ich existire, sogar
an mich schreibt'—mir ist noch, als wenn ich träumte, ob ich wol den Brief
schon ganz auswendig weiß." So wirkte schon damals der Zauber dieses
Mannes auch in die Ferne. In jedem Bries erkennen wir das unauslösch¬
liche Gepräge, daß dieser überlegene Geist den Seinigen aufdrückte. Als ein¬
mal Henriette über Verlornes oder nicht gefundenes Glück klagt, tröstet sie der
Bruder (28. Nov. 1784) durch Goethes Lebensphilosophie. „Der Mensch ist
weder zum Glück noch zum Unglück geschaffen; er ist geschaffen, daß er da
sei; die Ordnung der Dinge rief ihn hervor. Das Schicksal, das ihn von
außen treibt, legt ihn zwischen wechselseitige Schalen. Jedem ist nach seinem
Maß eine gute Portion Glück zugetheilt, das er sich nicht gegeben hat; jedem
eine fast unvermeidliche Portion Elend. Selbst dem Unglücklichsten ist ost da
Hilfe, Glück und Genuß zugetheilt, wo wir es nicht errathen, kaum selbst
für ihn suhlen können — z. B. die Zufriedenheit, die ein Mathematiker bei
einem schwer ausgelösten Problem findet; während dem Glücklichen ein un¬
vermeidlich Elend kommt, wo er es nicht voraussehn konnte. Dieses Gesetz
erhalt den Menschen in einer steten Achtsamkeit und Spannung. Er hat stets
Ursache zu hoffen und zu fürchten; das Unwahrscheinlichste ist doch möglich
und hat sich schon ereignet, und das Glück, worauf er am sichersten baute,
ist vor seinen Augen verschwunden. Durch diese Nothwendigkeit zieht sich ein
elektrischer Faden, der das Gute von den Dingen zu erhalten sucht und an
sich reißt, und das Böse von sich stößt. Das ist die Kraft des Geistes. Sie
beweist sich darin, daß sie das Gute fixirt und deshalb, obgleich allem zu¬
fälligen Glück bereit, dennoch nichts zuläßt, was ihr das Gefühl davon zu
einer andern Zeit benehmen könnte. Dadurch erhält sie sich in der glücklichen
Flut des Daseins gemächlich und bewußt, sind hingegen die Wasser enger
und trüber, und sinken zur Ebbe, so wird sie nicht so leicht mit vom Ufer
weggetrieben. Sie hat sich vieler dauerhaften Dinge bemeistert, die ihr das
Schicksal nicht nehmen kann, ihr Geist selbst ist frei und thätig, wie Uluß
in den Meereswogen; sie hat ruhig dulden gelernt und wird also zur Zeit
des zögernden Schicksals nicht erdrückt, und was sie nun noch verlieren kann,
sind meist nur Spiele, die sie nie anders betrachtet, und die sich zur Zeit
des Glücks leicht wieder anhängen." — „Die Fluten des Lebens sind in der
Jugend weit gefälliger; das Leben wird strenger, je länger es sich lebt. Es
wird immer weniger gleichgiltig gegen das, was man sich erwirbt, weil es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/52>, abgerufen am 24.07.2024.