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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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der heimischen Zustände zu urtheilen vermag; und doppelt erfreulich ist es,
daß sie grade von Ungarn ausgehn, dem bisherigen Herd des Separatismus.

Eine politische (ständische) Centralisation Oestreichs, verbunden mit der
administrativen Decentralisation würde die Stellung dieses Staats auch nach
den beiden Seiten hin klären, die bis jetzt die bedenklichsten Blößen bieten.
Nach einer solchen Reform würde es nicht mehr in seinem Interesse liegen,
in Deutschland oder in Italien der absolutistischen Partei gegen die liberale hilf¬
reiche Hand zu leisten; es würde der organischen Entwicklung dieser natürlichen
Verbündeten kein Hinderniß mehr in den Weg legen dürfen. Denn was ist
abgesehen von der Begierde, die Herrschaft über das natürliche Maß auszu¬
dehnen -- der geheime Grund, der Oestreich bestimmt, das Zustandekommen
eines engern Bundesstaats (Union, selbst in der matten Abschwächung eines
Zollvereins) aus allen Kräften zu hintertreiben? Die Furcht, daß ein solcher
eine magnetische Anziehungskraft auf die deutschen, resp, italienischen Be¬
sitzungen der Monarchie ausüben und demnach auflösend auf dieselbe ein¬
wirken werde. Eine solche Furcht schwindet, wenn der Deutschöstreicher in
seinem eignen Staat die politische Befriedigung findet, die er sonst anderwärts
zu suchen geneigt war.

Oestreich hat bis jetzt die Politik verfolgt, in Deutschland die Mittelstaaten
gegen Preußen und den Gedanken der deutschen Einheit, in Italien die ab¬
solutistischen Regierungen und das Papstthum gegen das constitutionelle Sar¬
dinien und die Republik ins Feld zu rufen. Wie wäre es, wenn es einmal
den entgegengesetzten Weg versuchte? Vielleicht wäre dazu kein Augenblick
günstiger als der gegenwärtige.

In Sardinien wird -- falls nicht wieder unvorhergesehene Ereignisse ein¬
treten, und vielleicht auch dann infolge der schmählichen Enttäuschung der
letzten Tage eine furchtbare Reaction erfolgen; der Haß gegen Oestreich wird
durch den größeren und gerechteren gegen Frankreich in Schatten gedrängt
werden. -- Daß auch Frankreich das Feldgeschrei Viva, V"räi! nie und nimmer
unterstützen wird, muß jetzt endlich jeder Unbefangene erkannt haben; es han¬
delt sich auch mit Hilfe Frankreichs nur um die Gründung eines italienischen
Staatenbundes. -- Warum sollte Oestreich jetzt nicht versuchen, ganz ehrlich
die Rolle zu spielen, die Frankreich aus selbstsüchtigen Motiven unternahm?
Warum sollte es nicht in Italien mit Sardinien als Vertreter der liberalen
Reform auftreten, und mit einer Reorganisation der Lombardei, mit einer
Unterstützung der konstitutionellen Regierungsform in seinen Secundogenituren
den Anfang machen? -- Die Ueberraschung wäre ungeheuer; aber grade darum!
-- Noch viel größere Chancen würde dieser Plan haben, wenn etwa eine
republikanische Empörung ausbrechen, und, wie natürlich, niedergeschlagen
werden sollte.


der heimischen Zustände zu urtheilen vermag; und doppelt erfreulich ist es,
daß sie grade von Ungarn ausgehn, dem bisherigen Herd des Separatismus.

Eine politische (ständische) Centralisation Oestreichs, verbunden mit der
administrativen Decentralisation würde die Stellung dieses Staats auch nach
den beiden Seiten hin klären, die bis jetzt die bedenklichsten Blößen bieten.
Nach einer solchen Reform würde es nicht mehr in seinem Interesse liegen,
in Deutschland oder in Italien der absolutistischen Partei gegen die liberale hilf¬
reiche Hand zu leisten; es würde der organischen Entwicklung dieser natürlichen
Verbündeten kein Hinderniß mehr in den Weg legen dürfen. Denn was ist
abgesehen von der Begierde, die Herrschaft über das natürliche Maß auszu¬
dehnen — der geheime Grund, der Oestreich bestimmt, das Zustandekommen
eines engern Bundesstaats (Union, selbst in der matten Abschwächung eines
Zollvereins) aus allen Kräften zu hintertreiben? Die Furcht, daß ein solcher
eine magnetische Anziehungskraft auf die deutschen, resp, italienischen Be¬
sitzungen der Monarchie ausüben und demnach auflösend auf dieselbe ein¬
wirken werde. Eine solche Furcht schwindet, wenn der Deutschöstreicher in
seinem eignen Staat die politische Befriedigung findet, die er sonst anderwärts
zu suchen geneigt war.

Oestreich hat bis jetzt die Politik verfolgt, in Deutschland die Mittelstaaten
gegen Preußen und den Gedanken der deutschen Einheit, in Italien die ab¬
solutistischen Regierungen und das Papstthum gegen das constitutionelle Sar¬
dinien und die Republik ins Feld zu rufen. Wie wäre es, wenn es einmal
den entgegengesetzten Weg versuchte? Vielleicht wäre dazu kein Augenblick
günstiger als der gegenwärtige.

In Sardinien wird — falls nicht wieder unvorhergesehene Ereignisse ein¬
treten, und vielleicht auch dann infolge der schmählichen Enttäuschung der
letzten Tage eine furchtbare Reaction erfolgen; der Haß gegen Oestreich wird
durch den größeren und gerechteren gegen Frankreich in Schatten gedrängt
werden. — Daß auch Frankreich das Feldgeschrei Viva, V«räi! nie und nimmer
unterstützen wird, muß jetzt endlich jeder Unbefangene erkannt haben; es han¬
delt sich auch mit Hilfe Frankreichs nur um die Gründung eines italienischen
Staatenbundes. — Warum sollte Oestreich jetzt nicht versuchen, ganz ehrlich
die Rolle zu spielen, die Frankreich aus selbstsüchtigen Motiven unternahm?
Warum sollte es nicht in Italien mit Sardinien als Vertreter der liberalen
Reform auftreten, und mit einer Reorganisation der Lombardei, mit einer
Unterstützung der konstitutionellen Regierungsform in seinen Secundogenituren
den Anfang machen? — Die Ueberraschung wäre ungeheuer; aber grade darum!
— Noch viel größere Chancen würde dieser Plan haben, wenn etwa eine
republikanische Empörung ausbrechen, und, wie natürlich, niedergeschlagen
werden sollte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/464>, abgerufen am 24.07.2024.