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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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in Sardinien einen staatlichen Organismus, der ihm die Möglichkeit einer
naturgemäßen, konservativen Entwicklung in Aussicht stellt.

Sardinien hat nun in Frankreich einen Verbündeten gefunden, der es
freilich zu seinen eigennützigen Zwecken ausbeutet, aber darum Oestreich nicht
minder gefährlich ist. Die Gefahr wird um so größer, da Frankreich an der
dritten Stelle, wo Oestreich verwundbar ist, an der Donau, sich mit Oestreichs
entschiedenstem Gegner, mit Rußland in Verständniß gesetzt hat.

An der Donau ist Oestreichs Beruf am unverkennbarsten -- das wohl-
verstandne Interesse sämmtlicher Völker von dem Gebirgszug des Hanns an
nordwärts leitet sie dahin, da sie ein eignes Staatsleben nicht führen können,
in ein Reich aufzugehn, daß ihrem Particularismus Befriedigung bieten kann.
Dazu eignet sich kein Staat mehr als Oestreich, nicht blos durch seine Lage,
sondern auch durch seine Zusammensetzung. Wer Rußland verfällt, muß Russe
werden; als Oestreicher kann er Serbe, Rumäne, Ungar, Kroäk u. s. w. blei¬
ben, vorausgesetzt daß der Staat sich eine Organisation gibt, die den indivi¬
duellen Bedürfnissen und Vorurtheilen der einzelnen Völker Rechnung trägt.
In diesem Fall hat Oestreich hier eine große Zukunft; im entgegengesetzten
Fall ruft es die Bildung von Organisationen außerhalb seiner Grenzen hervor,
die endlich durch Anziehung der verwandten Elemente sein eignes Staats-
gefüge zersetzen. Bleibt Oestreich ein absolutistischer Staat, und kommt da¬
neben ein unabhängiges Serbien, ein unabhängiges Rumänien zu Stande,
so ist damit für Rußland eine Bresche geschlagen, die Oestreich den Unter¬
gang droht.

Hier gewinnt Oestreich nur in dem Fall freie Hand, wenn es sich gegen
Frankreich durch einen festen Bund mit Preußen und Deutschland einerseits,
mit Sardinien und Italien andrerseits sichert. Das Letzte wird sehr paradox
klingen; es ist aber möglich, sobald Oestreich eben aufhört, mit drei Würfeln
neunzehn Augen werfen zu wollen.

Sobald es nach diesen beiden Seiten hin lediglich die Defensive festhält,
kann es ohne Gefahr die innern Kräfte zum freien Ausdruck bringen, und
dadurch eine Macht entwickeln, die seine Vergangenheit bei weitem hinter sich
läßt. Hier wenden wir uns wieder zu dem Gedankengang des Verfassers
zurück.

Es ist zur Gewohnheit geworden, die konstitutionelle Staatsform blos
als Garantie der bürgerlichen Freiheit und als Mittel zu betrachten,
durch welches die absolute Gewalt des Königthums beschränkt werden soll.
In einer Zeit, wo man keine andern Gefahren für die Freiheit kannte, war
diese Ansicht vielleicht die richtige: heutzutage, wo die Freiheit gegen ganz
andere Gefahren geschützt werden muß, ist sie es aber sicher nicht mehr, und
die Entscheidung der Frage, ob die Einführung constitutioneller Formen zweck-


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in Sardinien einen staatlichen Organismus, der ihm die Möglichkeit einer
naturgemäßen, konservativen Entwicklung in Aussicht stellt.

Sardinien hat nun in Frankreich einen Verbündeten gefunden, der es
freilich zu seinen eigennützigen Zwecken ausbeutet, aber darum Oestreich nicht
minder gefährlich ist. Die Gefahr wird um so größer, da Frankreich an der
dritten Stelle, wo Oestreich verwundbar ist, an der Donau, sich mit Oestreichs
entschiedenstem Gegner, mit Rußland in Verständniß gesetzt hat.

An der Donau ist Oestreichs Beruf am unverkennbarsten — das wohl-
verstandne Interesse sämmtlicher Völker von dem Gebirgszug des Hanns an
nordwärts leitet sie dahin, da sie ein eignes Staatsleben nicht führen können,
in ein Reich aufzugehn, daß ihrem Particularismus Befriedigung bieten kann.
Dazu eignet sich kein Staat mehr als Oestreich, nicht blos durch seine Lage,
sondern auch durch seine Zusammensetzung. Wer Rußland verfällt, muß Russe
werden; als Oestreicher kann er Serbe, Rumäne, Ungar, Kroäk u. s. w. blei¬
ben, vorausgesetzt daß der Staat sich eine Organisation gibt, die den indivi¬
duellen Bedürfnissen und Vorurtheilen der einzelnen Völker Rechnung trägt.
In diesem Fall hat Oestreich hier eine große Zukunft; im entgegengesetzten
Fall ruft es die Bildung von Organisationen außerhalb seiner Grenzen hervor,
die endlich durch Anziehung der verwandten Elemente sein eignes Staats-
gefüge zersetzen. Bleibt Oestreich ein absolutistischer Staat, und kommt da¬
neben ein unabhängiges Serbien, ein unabhängiges Rumänien zu Stande,
so ist damit für Rußland eine Bresche geschlagen, die Oestreich den Unter¬
gang droht.

Hier gewinnt Oestreich nur in dem Fall freie Hand, wenn es sich gegen
Frankreich durch einen festen Bund mit Preußen und Deutschland einerseits,
mit Sardinien und Italien andrerseits sichert. Das Letzte wird sehr paradox
klingen; es ist aber möglich, sobald Oestreich eben aufhört, mit drei Würfeln
neunzehn Augen werfen zu wollen.

Sobald es nach diesen beiden Seiten hin lediglich die Defensive festhält,
kann es ohne Gefahr die innern Kräfte zum freien Ausdruck bringen, und
dadurch eine Macht entwickeln, die seine Vergangenheit bei weitem hinter sich
läßt. Hier wenden wir uns wieder zu dem Gedankengang des Verfassers
zurück.

Es ist zur Gewohnheit geworden, die konstitutionelle Staatsform blos
als Garantie der bürgerlichen Freiheit und als Mittel zu betrachten,
durch welches die absolute Gewalt des Königthums beschränkt werden soll.
In einer Zeit, wo man keine andern Gefahren für die Freiheit kannte, war
diese Ansicht vielleicht die richtige: heutzutage, wo die Freiheit gegen ganz
andere Gefahren geschützt werden muß, ist sie es aber sicher nicht mehr, und
die Entscheidung der Frage, ob die Einführung constitutioneller Formen zweck-


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[0453] in Sardinien einen staatlichen Organismus, der ihm die Möglichkeit einer naturgemäßen, konservativen Entwicklung in Aussicht stellt. Sardinien hat nun in Frankreich einen Verbündeten gefunden, der es freilich zu seinen eigennützigen Zwecken ausbeutet, aber darum Oestreich nicht minder gefährlich ist. Die Gefahr wird um so größer, da Frankreich an der dritten Stelle, wo Oestreich verwundbar ist, an der Donau, sich mit Oestreichs entschiedenstem Gegner, mit Rußland in Verständniß gesetzt hat. An der Donau ist Oestreichs Beruf am unverkennbarsten — das wohl- verstandne Interesse sämmtlicher Völker von dem Gebirgszug des Hanns an nordwärts leitet sie dahin, da sie ein eignes Staatsleben nicht führen können, in ein Reich aufzugehn, daß ihrem Particularismus Befriedigung bieten kann. Dazu eignet sich kein Staat mehr als Oestreich, nicht blos durch seine Lage, sondern auch durch seine Zusammensetzung. Wer Rußland verfällt, muß Russe werden; als Oestreicher kann er Serbe, Rumäne, Ungar, Kroäk u. s. w. blei¬ ben, vorausgesetzt daß der Staat sich eine Organisation gibt, die den indivi¬ duellen Bedürfnissen und Vorurtheilen der einzelnen Völker Rechnung trägt. In diesem Fall hat Oestreich hier eine große Zukunft; im entgegengesetzten Fall ruft es die Bildung von Organisationen außerhalb seiner Grenzen hervor, die endlich durch Anziehung der verwandten Elemente sein eignes Staats- gefüge zersetzen. Bleibt Oestreich ein absolutistischer Staat, und kommt da¬ neben ein unabhängiges Serbien, ein unabhängiges Rumänien zu Stande, so ist damit für Rußland eine Bresche geschlagen, die Oestreich den Unter¬ gang droht. Hier gewinnt Oestreich nur in dem Fall freie Hand, wenn es sich gegen Frankreich durch einen festen Bund mit Preußen und Deutschland einerseits, mit Sardinien und Italien andrerseits sichert. Das Letzte wird sehr paradox klingen; es ist aber möglich, sobald Oestreich eben aufhört, mit drei Würfeln neunzehn Augen werfen zu wollen. Sobald es nach diesen beiden Seiten hin lediglich die Defensive festhält, kann es ohne Gefahr die innern Kräfte zum freien Ausdruck bringen, und dadurch eine Macht entwickeln, die seine Vergangenheit bei weitem hinter sich läßt. Hier wenden wir uns wieder zu dem Gedankengang des Verfassers zurück. Es ist zur Gewohnheit geworden, die konstitutionelle Staatsform blos als Garantie der bürgerlichen Freiheit und als Mittel zu betrachten, durch welches die absolute Gewalt des Königthums beschränkt werden soll. In einer Zeit, wo man keine andern Gefahren für die Freiheit kannte, war diese Ansicht vielleicht die richtige: heutzutage, wo die Freiheit gegen ganz andere Gefahren geschützt werden muß, ist sie es aber sicher nicht mehr, und die Entscheidung der Frage, ob die Einführung constitutioneller Formen zweck- 56*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/453>, abgerufen am 24.07.2024.