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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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blos oder vorzugsweise aus den eigentlichen Arbeitern, sondern theils aus dem
industriellen Adel, welcher durch das Aufhören der Leibeigenschaft die ganzen
Voraussetzungen seiner materiellen Existenz geändert sieht; theils aus den
handeltreibenden Freigewordenen. Diesem Mittelstand fehlt jedoch noch
lange Zeit jedes körperschaftliche Bewußtsein; nicht blos weil seine beiden
Hauptelemente noch lange Zeit in socialen Rivalitäten gegeneinandergcstellt
bleiben, sondern auch vornehmlich deshalb, weil nach dem russischen National-
charakter die Freigewvrdenen, welche sich durch Arbeit über den Erwerb aus
der Hand in den Mund emporgehoben haben, nicht bei der Arbeit bleiben,
sondern ausschließlich zum Handel übergehen. Diejenigen aber, welche wie¬
der hier genug gewonnen, benutzen das sreiwerdende Capital nicht zu neuer
productiver Thätigkeit, sondern suchen damit die Prärogative der Adelstitel
zu erwerben. Das bürgerliche Element fehlt überhaupt dem russischen
Naturell und kann erst dann sich natürlich begründen, wenn nicht blos die
Emancipation durchgeführt, sondern ein freigeborenes Geschlecht auch die Bil¬
dung erworben haben wird, welche der jetzigen Generation fehlt. Die Her¬
ausbildung eines bürgerlichen Mittelstandes bleibt bei dem jetzigen Emanci¬
pationswerk noch ganz außer Frage, sie ist eine neue Ausgabe der Zukunft.
Es, galt zunächst nur. ein Gegengewicht gegen die Gefahr zu finden, daß die
Befreiung' von der leibeigenen Bevölkerung nicht dazu benutzt werde, den
schwereren Ackerbau um die leichtere und momentan lohnendere Jndustriearbcit
gänzlich zu verlassen. Deshalb ward auch festgesetzt, daß Haus und Garten
dem Bauer gehöre und der Grundherr ihm den hinreichenden Ackerboden
zur Lebensnothdurft gewähren müsse. So soll mindestens das bäuerliche
Proletariat und somit der Keim einer neuen ländlichen Leibeigenschaft ver¬
mieden werden, da der Entstehung des industriellen Lebens ans der Hand in
den Mund nicht vorzubeugen ist, wenn der industrielle Aufschwung nicht wie¬
der von vornherein mit lähmenden Fesseln beschwert werden soll.

Die Durchführung der Emancipation ist ein schwerer, gefährlicher Kampf,
und zwar nicht blos gegen das Widerstreben der bevorrechteten Opposition,
sondern auch gegen die Rohheit und Leidenschaften der Massen, welche sociale
Befreiung und anarchische Losgelassenhnt nicht zu scheiden wissen. Die Re¬
gierung bedarf also der ganzen Fülle ihrer Machtmittel zur Beherrschung des
innern Staatslebens auf lange Jahre hinaus. Während dieser Uebergangs¬
periode ist eine stetige Einlebung der neuen materiellen Zustände nicht zu er¬
warten. Eine energische Politik der mit Rußlands Machterweiterungsplanen
collidirenden Großmächte vermöchte wol diese Periode zu benutzen, um der
spätern Wiederaufnahme der alten, im Septembercircular programmartig for-
mulirten Politik durch ein besser gerüstetes, materiell ansgekräftigtes, auf seine
eigne Production gestelltes Reich zuvorzukommen. Der einschüchternde Nun-


blos oder vorzugsweise aus den eigentlichen Arbeitern, sondern theils aus dem
industriellen Adel, welcher durch das Aufhören der Leibeigenschaft die ganzen
Voraussetzungen seiner materiellen Existenz geändert sieht; theils aus den
handeltreibenden Freigewordenen. Diesem Mittelstand fehlt jedoch noch
lange Zeit jedes körperschaftliche Bewußtsein; nicht blos weil seine beiden
Hauptelemente noch lange Zeit in socialen Rivalitäten gegeneinandergcstellt
bleiben, sondern auch vornehmlich deshalb, weil nach dem russischen National-
charakter die Freigewvrdenen, welche sich durch Arbeit über den Erwerb aus
der Hand in den Mund emporgehoben haben, nicht bei der Arbeit bleiben,
sondern ausschließlich zum Handel übergehen. Diejenigen aber, welche wie¬
der hier genug gewonnen, benutzen das sreiwerdende Capital nicht zu neuer
productiver Thätigkeit, sondern suchen damit die Prärogative der Adelstitel
zu erwerben. Das bürgerliche Element fehlt überhaupt dem russischen
Naturell und kann erst dann sich natürlich begründen, wenn nicht blos die
Emancipation durchgeführt, sondern ein freigeborenes Geschlecht auch die Bil¬
dung erworben haben wird, welche der jetzigen Generation fehlt. Die Her¬
ausbildung eines bürgerlichen Mittelstandes bleibt bei dem jetzigen Emanci¬
pationswerk noch ganz außer Frage, sie ist eine neue Ausgabe der Zukunft.
Es, galt zunächst nur. ein Gegengewicht gegen die Gefahr zu finden, daß die
Befreiung' von der leibeigenen Bevölkerung nicht dazu benutzt werde, den
schwereren Ackerbau um die leichtere und momentan lohnendere Jndustriearbcit
gänzlich zu verlassen. Deshalb ward auch festgesetzt, daß Haus und Garten
dem Bauer gehöre und der Grundherr ihm den hinreichenden Ackerboden
zur Lebensnothdurft gewähren müsse. So soll mindestens das bäuerliche
Proletariat und somit der Keim einer neuen ländlichen Leibeigenschaft ver¬
mieden werden, da der Entstehung des industriellen Lebens ans der Hand in
den Mund nicht vorzubeugen ist, wenn der industrielle Aufschwung nicht wie¬
der von vornherein mit lähmenden Fesseln beschwert werden soll.

Die Durchführung der Emancipation ist ein schwerer, gefährlicher Kampf,
und zwar nicht blos gegen das Widerstreben der bevorrechteten Opposition,
sondern auch gegen die Rohheit und Leidenschaften der Massen, welche sociale
Befreiung und anarchische Losgelassenhnt nicht zu scheiden wissen. Die Re¬
gierung bedarf also der ganzen Fülle ihrer Machtmittel zur Beherrschung des
innern Staatslebens auf lange Jahre hinaus. Während dieser Uebergangs¬
periode ist eine stetige Einlebung der neuen materiellen Zustände nicht zu er¬
warten. Eine energische Politik der mit Rußlands Machterweiterungsplanen
collidirenden Großmächte vermöchte wol diese Periode zu benutzen, um der
spätern Wiederaufnahme der alten, im Septembercircular programmartig for-
mulirten Politik durch ein besser gerüstetes, materiell ansgekräftigtes, auf seine
eigne Production gestelltes Reich zuvorzukommen. Der einschüchternde Nun-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/426>, abgerufen am 24.07.2024.