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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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land, vorzugsweise Mitteleuropa und namentlich Oestreich, gehindert werden,
die Friedenszeit zu einer Eonsolidirung seiner Staatengruppe verwenden zu
können. Vor allem darf Oestreichs Einfluß in den Südslavenländern und
der Türkei sich nicht befestigen; der "kranke Mann" muß so krank und sterbens-
reif erhalten werden, als er ist, Oestreich nicht seine Verjüngung durchführen
können. Dennoch darf Nußland, um nicht selbst im Werke der innern Re¬
organisation behindert zu sein, nirgend aggressiv und provokatorisch hervor,
treten, wol aber stets zur Unterstützung einer derartigen Politik bereit er¬
scheinen. Diese höchst verschiedenartigen Aufgaben durchzuführen, ohne durch
die eine die andere zu hindern -- darauf zielt die ^nunmehrige Realpolitik.
Der Grund dazu war, wie wir früher gesehen, wohl vorbereitet; die volle Aus¬
führung des in seinen Endzielen wieder zusammenlaufenden Werkes kann na¬
türlich erst nach Menschenaltern erwartet werden. Wir stehen heut noch den
ersten Anfängen gegenüber; was jedoch geschah, ist bereits bezeichnend genug.

Als Kaiser Nikolaus schon im Anfang der vierziger Jahre den Gedan¬
ken eines russische" Eisenbahnsystems mit großer Lebhaftigkeit aufgegriffen
hatte, antwortete der alte Finanzminister Graf Cancrin: "Der Befehl Eurer
Maj. wird erfüllt werden, aber zehn Jahre nachher wird Nußland nicht Ru߬
land mehr sein." Die Ausführung des Planes unterblieb, damit Nußland
bleibe; blos Moskau sollte mit Petersburg zusammenfließen; erst im orien¬
talischen Krieg wurde der Plan "zu spät" von neuem aufgenommen. Ohne
Herstellung der Communicationen kein neues Nußland lautet die heutige Parole.
So ward der Abschluß des Eisenbahnbaues mit einer französisch-russischen Ge¬
sellschaft die Haupt- und Staatsaction, mit welcher noch das Jahr 1856 ab¬
schloß. Die Capitalspeculation erhielt ein festes Object; das Arbeitervolk,
noch nicht wieder festgewachsen in den herkömmlichen Beschäftigungen, strömte
dem ncugcbotencn Gewinn zu; gemeinsame materielle Interessen knüpften ein
neues Band mit Frankreich, welches nachher der französisch-russische Handels¬
vertrag, so wie die vorzugsweise auf Frankreich berechnete Revision des Zoll¬
tarifs noch mehr verstärkte. Aber der internationale Besitz der Eisenbahnen
dauert nur 85 Jahre; dann fällt die vollkommen freie Verfügung wieder an
Nußland. Ebenso maßgebend wie solche Rücksichten auf die äußere Politik,
wurden beim Abschluß der Eiscnbahncontracte die Vortheile, welche sich damit
gegen die Opposition der Neformfeinde boten. Den Grund- wie den Jndustrie-
adel aller Provinzen versetzt nämlich das Eisenbahnnetz nach zwei Seiten hin
in neue Abhängigkeit: er kann unter russischen Verhältnissen nirgend rück¬
sichtslos seine Standesintercssen geltend machen, wenn er nicht befürchten
will, seine materiellen Interessen bei der Specialbestimmung der Bahnlinien
unbeachtet zu sehen; er kann ferner seine Leibeigenen nicht von den Eisen¬
bahnarbeiter zurückhalten, wenn er nicht durch einen derartigen Widerstand


land, vorzugsweise Mitteleuropa und namentlich Oestreich, gehindert werden,
die Friedenszeit zu einer Eonsolidirung seiner Staatengruppe verwenden zu
können. Vor allem darf Oestreichs Einfluß in den Südslavenländern und
der Türkei sich nicht befestigen; der „kranke Mann" muß so krank und sterbens-
reif erhalten werden, als er ist, Oestreich nicht seine Verjüngung durchführen
können. Dennoch darf Nußland, um nicht selbst im Werke der innern Re¬
organisation behindert zu sein, nirgend aggressiv und provokatorisch hervor,
treten, wol aber stets zur Unterstützung einer derartigen Politik bereit er¬
scheinen. Diese höchst verschiedenartigen Aufgaben durchzuführen, ohne durch
die eine die andere zu hindern — darauf zielt die ^nunmehrige Realpolitik.
Der Grund dazu war, wie wir früher gesehen, wohl vorbereitet; die volle Aus¬
führung des in seinen Endzielen wieder zusammenlaufenden Werkes kann na¬
türlich erst nach Menschenaltern erwartet werden. Wir stehen heut noch den
ersten Anfängen gegenüber; was jedoch geschah, ist bereits bezeichnend genug.

Als Kaiser Nikolaus schon im Anfang der vierziger Jahre den Gedan¬
ken eines russische» Eisenbahnsystems mit großer Lebhaftigkeit aufgegriffen
hatte, antwortete der alte Finanzminister Graf Cancrin: „Der Befehl Eurer
Maj. wird erfüllt werden, aber zehn Jahre nachher wird Nußland nicht Ru߬
land mehr sein." Die Ausführung des Planes unterblieb, damit Nußland
bleibe; blos Moskau sollte mit Petersburg zusammenfließen; erst im orien¬
talischen Krieg wurde der Plan „zu spät" von neuem aufgenommen. Ohne
Herstellung der Communicationen kein neues Nußland lautet die heutige Parole.
So ward der Abschluß des Eisenbahnbaues mit einer französisch-russischen Ge¬
sellschaft die Haupt- und Staatsaction, mit welcher noch das Jahr 1856 ab¬
schloß. Die Capitalspeculation erhielt ein festes Object; das Arbeitervolk,
noch nicht wieder festgewachsen in den herkömmlichen Beschäftigungen, strömte
dem ncugcbotencn Gewinn zu; gemeinsame materielle Interessen knüpften ein
neues Band mit Frankreich, welches nachher der französisch-russische Handels¬
vertrag, so wie die vorzugsweise auf Frankreich berechnete Revision des Zoll¬
tarifs noch mehr verstärkte. Aber der internationale Besitz der Eisenbahnen
dauert nur 85 Jahre; dann fällt die vollkommen freie Verfügung wieder an
Nußland. Ebenso maßgebend wie solche Rücksichten auf die äußere Politik,
wurden beim Abschluß der Eiscnbahncontracte die Vortheile, welche sich damit
gegen die Opposition der Neformfeinde boten. Den Grund- wie den Jndustrie-
adel aller Provinzen versetzt nämlich das Eisenbahnnetz nach zwei Seiten hin
in neue Abhängigkeit: er kann unter russischen Verhältnissen nirgend rück¬
sichtslos seine Standesintercssen geltend machen, wenn er nicht befürchten
will, seine materiellen Interessen bei der Specialbestimmung der Bahnlinien
unbeachtet zu sehen; er kann ferner seine Leibeigenen nicht von den Eisen¬
bahnarbeiter zurückhalten, wenn er nicht durch einen derartigen Widerstand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/423>, abgerufen am 24.07.2024.