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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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reich selbst unter den Waffen seinen lebhaftesten Ausdruck gefunden hatte.
Rußlands hegemonistische Stellung zu den kleinern Höfen Deutschlands fand
ein Jahr später ihren bezeichnenden Ausdruck in der wiederholten Rundreise des
Kaisers, in seiner Conferenz mit Napoleon zu Stuttgart, in der Verheiratung
des Großfürsten Michael mit einer badischen Prinzessin u. s. w.

Durch das Programm vom 2. September und die dasselbe begleitenden
Erscheinungen ward also schon während der letzten Vorbereitungen zur Krö¬
nung den noch vorhandenen oppositionellen Stimmungen der in Moskau ver¬
sammelten Nationalaristokratie die Schärfe abgestumpft. Mehr an das große
Publicum, dessen loyale Stimmung für die bevorstehenden Fricdensaufgaben
gleichermaßen unentbehrlich wie seine Arbeitskräfte, wendeten sich allerdings
die Gnadeukase, welche am Krönungstag selbst ergingen. Allein zugleich
betrafen wieder einige den Adel vorzugsweise und direct, theils übertrugen
sich die darin gewährten Vortheile aus jenen durch die Zusammengehörigkeit
der Leibeignen mit dem adeligen Grundbesitz und durch die Garantie der Leib-
Herrn für die Staatsleistungen ihrer Unterthanen. Hierher gehört der Erlaß
von Steucrrückständen und Geldstrafen im ungefähren Gesammtbetrag von
zwanzig Millionen Silberrubel; hierher die angeordnete neue Zählung der
von Krieg und Seuchen decimirten Kopfsteuerpflichtigcn. da noch immer diese
Abgabe, für welche die Grundherrn in letzter Instanz zu haften haben, nach
der frühern Zahlung erhoben wurde.*) Daraus floß an sich die Nothwendig¬
keit einer Suspendirung der Rekrutirung wenigstens bis nach Feststellung der
gegenwärtigen Bevölkerungszahl. Daß diese Suspendirung auf vier Jahre
erstreckt wurde, empfand sich im Adel und Volke allerdings als höchste Wohl¬
that nach den Menschenopfern der letzten Jahre und für die Wiederaufnahme
der gewohnten, wie zum festen Beginn der von der Friedenspolitik in Aus¬
sicht gestellten Arbeiten. Aber dem Staate selbst war auch die regelmäßige
Fortsetzung der Rekrutenaushebungen eine zweifache Unmöglichkeit. In einer
Reihe von Gouvernements hatten nämlich schon die letzten Aushebungen weit
unter und über das gesetzmäßige Alter greifen müssen. Außerdem waren dieselben
nach dem Kriegsbedürfnisse bemessen gewesen und hatten für das bedeutend
verringerte Friedensbedürfniß, trotz der großen Menschenverluste, doch immer
noch eine überschüssige Zahl von Soldaten zurückgelassen. Des größten Theils
derselben entledigte sich nun momentan der Staat und Staatsschatz durch Be¬
urlaubung. Dennoch stehen sie ihm jeden Moment zur Verfügung, sobald er
ihrer zur Completirung der im Dienst befindlichen, in ihrer äußern und innern
Reorganisation begriffenen Armee bedarf. In dieser, abweichend von der



') Da diese letzte Zählung auch für die Steuern und Leistungen der Leibeignen an ihre
Leibherrn bis nach Vollendung der nächsten Zählung maßgebend ist, so waren allerdings viele
Gemeinden nach dieser Seite hin überbürdet.

reich selbst unter den Waffen seinen lebhaftesten Ausdruck gefunden hatte.
Rußlands hegemonistische Stellung zu den kleinern Höfen Deutschlands fand
ein Jahr später ihren bezeichnenden Ausdruck in der wiederholten Rundreise des
Kaisers, in seiner Conferenz mit Napoleon zu Stuttgart, in der Verheiratung
des Großfürsten Michael mit einer badischen Prinzessin u. s. w.

Durch das Programm vom 2. September und die dasselbe begleitenden
Erscheinungen ward also schon während der letzten Vorbereitungen zur Krö¬
nung den noch vorhandenen oppositionellen Stimmungen der in Moskau ver¬
sammelten Nationalaristokratie die Schärfe abgestumpft. Mehr an das große
Publicum, dessen loyale Stimmung für die bevorstehenden Fricdensaufgaben
gleichermaßen unentbehrlich wie seine Arbeitskräfte, wendeten sich allerdings
die Gnadeukase, welche am Krönungstag selbst ergingen. Allein zugleich
betrafen wieder einige den Adel vorzugsweise und direct, theils übertrugen
sich die darin gewährten Vortheile aus jenen durch die Zusammengehörigkeit
der Leibeignen mit dem adeligen Grundbesitz und durch die Garantie der Leib-
Herrn für die Staatsleistungen ihrer Unterthanen. Hierher gehört der Erlaß
von Steucrrückständen und Geldstrafen im ungefähren Gesammtbetrag von
zwanzig Millionen Silberrubel; hierher die angeordnete neue Zählung der
von Krieg und Seuchen decimirten Kopfsteuerpflichtigcn. da noch immer diese
Abgabe, für welche die Grundherrn in letzter Instanz zu haften haben, nach
der frühern Zahlung erhoben wurde.*) Daraus floß an sich die Nothwendig¬
keit einer Suspendirung der Rekrutirung wenigstens bis nach Feststellung der
gegenwärtigen Bevölkerungszahl. Daß diese Suspendirung auf vier Jahre
erstreckt wurde, empfand sich im Adel und Volke allerdings als höchste Wohl¬
that nach den Menschenopfern der letzten Jahre und für die Wiederaufnahme
der gewohnten, wie zum festen Beginn der von der Friedenspolitik in Aus¬
sicht gestellten Arbeiten. Aber dem Staate selbst war auch die regelmäßige
Fortsetzung der Rekrutenaushebungen eine zweifache Unmöglichkeit. In einer
Reihe von Gouvernements hatten nämlich schon die letzten Aushebungen weit
unter und über das gesetzmäßige Alter greifen müssen. Außerdem waren dieselben
nach dem Kriegsbedürfnisse bemessen gewesen und hatten für das bedeutend
verringerte Friedensbedürfniß, trotz der großen Menschenverluste, doch immer
noch eine überschüssige Zahl von Soldaten zurückgelassen. Des größten Theils
derselben entledigte sich nun momentan der Staat und Staatsschatz durch Be¬
urlaubung. Dennoch stehen sie ihm jeden Moment zur Verfügung, sobald er
ihrer zur Completirung der im Dienst befindlichen, in ihrer äußern und innern
Reorganisation begriffenen Armee bedarf. In dieser, abweichend von der



') Da diese letzte Zählung auch für die Steuern und Leistungen der Leibeignen an ihre
Leibherrn bis nach Vollendung der nächsten Zählung maßgebend ist, so waren allerdings viele
Gemeinden nach dieser Seite hin überbürdet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/396>, abgerufen am 24.07.2024.