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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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und Wege standen. Zugleich war wieder Oestreich in der einen (neapolita¬
nischen) Frage nur formell neutral, in Wahrheit dagegen und durch seine
italienischen Interessen auf eine Zustimmung zur russischen Mißbilligung gegen
die westmüchtliche Jnterventionspolitik gewiesen. Endlich aber mußten alle
Staaten zweiten Ranges, wie auch die Principien ihrer inneren Politik be¬
schaffe" sein mögen, schon darum mit Griechenland und Neapel sympathi-
siren, weil es sich bei beiden jedenfalls um eine Beschränkung ihrer souveränen
Selbstbestimmung durch ein aggressives Verfahren stärkerer Mächte handelte.

Aye diese Umstände faßte jenes Circular genau ins Auge; und indem
man es zusammenhält theils mit der Stellung Rußlands, wie sie durch die
Neugestaltung des Petersburger Cabinets und den berliner Fürstencongreß an¬
gedeutet war, theils mit der Stellung, welche die Prinzen der Mittclstaaten
soeben bei der Kaiserkrönung einzunehmen kamen, erhält es doppelt die Be¬
deutung eines rcalpolitischen Programms. Die beiden speciellen Streitfragen
wegen Griechenland und Neapel waren in dem Augenblick, da Rußland-sein
Circular erließ, an sich kaum danach angethan, eine so entschiedene Kundgebung
zu erfordern. Dagegen erschien allerdings der Moment ganz besonders ge¬
eignet, um sie und alle Mittelstaatcn zu versichern, daß sie gegen etwaige Unbill
von größeren Staaten, wie unter Nikolaus dem Ersten, so unter Alexander dein
Zweiten an Rußland einen Schutzherrn ihrer Souveränetät finden würden. "Ach¬
tung vor dem Recht und der Unabhängigkeit der Regierungen" hieß es, "hätten in
der orientalischen Angelegenheit die Gegner Rußlands zur Parole genommen;"
der pariser Friede habe die Bestimmung gehabt, "den normalen Zustand der
internationalen Beziehungen in Europa wieder herzustellen." Nußland wolle
bei keiner der europäischen Mächte voraussetzen, daß ,,es sich damals nur um
ein passendes Gelegcnheitswort (mot ä'ol'ars cle cireonstaueL) gehandelt habe
und daß jetzt nach beendeten Kampf jeder sich berechtigt glaube, ein seinen
besondern Interessen und Berechnungen beliebiges Verfahren einzuschlagen."
Dennoch sei die Wiederherstellung der normalen Beziehungen, "welche sich
auf die Achtung vor dem Recht und die Unabhängigkeit der Regierungen
gründeten," nicht erfolgt. Zeugniß dafür lege die Fortdauer der grundlos
gewordenen Besetzung des Piräus ab, so wie die ähnliche gegen Neapel
gewendete Drohung. Während in Griechenland das Aufhören der Gegen¬
wart fremder Truppen in Aussicht stehe, sei der König von Neapel
"Gegenstand einer Bedränguug" (l'vdM ä'nun pression) nicht wegen inter¬
nationaler Verhältnisse, sondern ..weil er in Ausübung seiner unbestreitbaren
Souveränetätsrechte seine Unterthanen nach seiner Ueberzeugung regiert."
Weniger als jemals dürfe jetzt grade vergessen werden, daß die Souveräne
ebenbürtig untereinander, und "daß nicht nach dein Flüchenranm des Gebie¬
tes, sondern nach der Heiligkeit der Nechte eines jeden die zwischen ihnen de-


und Wege standen. Zugleich war wieder Oestreich in der einen (neapolita¬
nischen) Frage nur formell neutral, in Wahrheit dagegen und durch seine
italienischen Interessen auf eine Zustimmung zur russischen Mißbilligung gegen
die westmüchtliche Jnterventionspolitik gewiesen. Endlich aber mußten alle
Staaten zweiten Ranges, wie auch die Principien ihrer inneren Politik be¬
schaffe» sein mögen, schon darum mit Griechenland und Neapel sympathi-
siren, weil es sich bei beiden jedenfalls um eine Beschränkung ihrer souveränen
Selbstbestimmung durch ein aggressives Verfahren stärkerer Mächte handelte.

Aye diese Umstände faßte jenes Circular genau ins Auge; und indem
man es zusammenhält theils mit der Stellung Rußlands, wie sie durch die
Neugestaltung des Petersburger Cabinets und den berliner Fürstencongreß an¬
gedeutet war, theils mit der Stellung, welche die Prinzen der Mittclstaaten
soeben bei der Kaiserkrönung einzunehmen kamen, erhält es doppelt die Be¬
deutung eines rcalpolitischen Programms. Die beiden speciellen Streitfragen
wegen Griechenland und Neapel waren in dem Augenblick, da Rußland-sein
Circular erließ, an sich kaum danach angethan, eine so entschiedene Kundgebung
zu erfordern. Dagegen erschien allerdings der Moment ganz besonders ge¬
eignet, um sie und alle Mittelstaatcn zu versichern, daß sie gegen etwaige Unbill
von größeren Staaten, wie unter Nikolaus dem Ersten, so unter Alexander dein
Zweiten an Rußland einen Schutzherrn ihrer Souveränetät finden würden. „Ach¬
tung vor dem Recht und der Unabhängigkeit der Regierungen" hieß es, „hätten in
der orientalischen Angelegenheit die Gegner Rußlands zur Parole genommen;"
der pariser Friede habe die Bestimmung gehabt, „den normalen Zustand der
internationalen Beziehungen in Europa wieder herzustellen." Nußland wolle
bei keiner der europäischen Mächte voraussetzen, daß ,,es sich damals nur um
ein passendes Gelegcnheitswort (mot ä'ol'ars cle cireonstaueL) gehandelt habe
und daß jetzt nach beendeten Kampf jeder sich berechtigt glaube, ein seinen
besondern Interessen und Berechnungen beliebiges Verfahren einzuschlagen."
Dennoch sei die Wiederherstellung der normalen Beziehungen, „welche sich
auf die Achtung vor dem Recht und die Unabhängigkeit der Regierungen
gründeten," nicht erfolgt. Zeugniß dafür lege die Fortdauer der grundlos
gewordenen Besetzung des Piräus ab, so wie die ähnliche gegen Neapel
gewendete Drohung. Während in Griechenland das Aufhören der Gegen¬
wart fremder Truppen in Aussicht stehe, sei der König von Neapel
„Gegenstand einer Bedränguug" (l'vdM ä'nun pression) nicht wegen inter¬
nationaler Verhältnisse, sondern ..weil er in Ausübung seiner unbestreitbaren
Souveränetätsrechte seine Unterthanen nach seiner Ueberzeugung regiert."
Weniger als jemals dürfe jetzt grade vergessen werden, daß die Souveräne
ebenbürtig untereinander, und „daß nicht nach dein Flüchenranm des Gebie¬
tes, sondern nach der Heiligkeit der Nechte eines jeden die zwischen ihnen de-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/393>, abgerufen am 24.07.2024.