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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Der Feldzug der Franzosen nach Kochinchina.

Es gab eine Zeit, wo man von dem Auseinanderschlagen der Völker
weit in der Türkei mit Behaglichkeit Notiz nehmen und dem Himmel danken
konnte, daß es daheim ruhiges Wetter gab. Diese Zeit ist vorüber. Eisen¬
bahnen und Dampfschiffe haben die Beziehungen der Reiche und Welttheile zu¬
einander in sehr wesentlicher Weise umgestaltet, und sie werden sie in den
nächsten zwanzig oder dreißig Jahren noch weit mehr verändern. Die Macht¬
erweiterung eines europäischen Staates selbst im fernsten Osten Asiens kann
uns nicht mehr gleichgiltig sein, sie wirkt mit der Schnelligkeit der elektrischen
Strömung des Telegraphen zurück auf seine Stellung im Westen, auf seinen
Rang im Staatensystem der civilisirten Welt. Die orientalische Frage schwillt
von Jahr zu Jahr mehr an. War ihr Gegenstand anfänglich der Besitz Kon¬
stantinopels, so umfaßt sie jetzt ganz Asien bis zur Mündung des Amur
und bis zu den Inseln und Küsten Indiens, und schon die nächste Generation
wird es erleben, daß an den Höfen von Peking und Jeddo ein ähnliches
Intrigenspiel der Diplomatie, ein ähnliches Rivalisiren der europäischen
Mächte und ein ähnlicher Zersetzungsproccß der bisherigen Verhältnisse beginnt,
wie gegenwärtig und schon seit längerer Zeit in Stambul und Teheran. So
war das Interesse, das der indische Aufstand, der Krieg in China, und der
Frieden erweckte, welcher das himmlische Reich dem Handel Europas auf¬
schloß, ein berechtigtes, so die Theilnahme, welche die Verträge mit Japan
und die Erwerbung des Amurlandes durch Rußland allenthalben erregten,
eine begreifliche. So erklärt sich auch die Eifersucht, mit welcher namentlich
England die aufgedrungene Betheiligung der Franzosen an dem Kriege mit
China und den darauf folgenden Zug gegen Kochinchina oder Aram be¬
trachtete.

Längere Zeit waren es nur England und Rußland gewesen, die sich in
Ostasien als Nebenbuhler gegenüberstanden. Ganz allmälig und seit der
Besiedelung Kaliforniens rascher war zu ihnen auch die amerikanische Gro߬
macht getreten. Nun gesellte sich unerwartet als vierter Rival Frankreich da-


Grcnzbotcn I. 1869. 4g
Der Feldzug der Franzosen nach Kochinchina.

Es gab eine Zeit, wo man von dem Auseinanderschlagen der Völker
weit in der Türkei mit Behaglichkeit Notiz nehmen und dem Himmel danken
konnte, daß es daheim ruhiges Wetter gab. Diese Zeit ist vorüber. Eisen¬
bahnen und Dampfschiffe haben die Beziehungen der Reiche und Welttheile zu¬
einander in sehr wesentlicher Weise umgestaltet, und sie werden sie in den
nächsten zwanzig oder dreißig Jahren noch weit mehr verändern. Die Macht¬
erweiterung eines europäischen Staates selbst im fernsten Osten Asiens kann
uns nicht mehr gleichgiltig sein, sie wirkt mit der Schnelligkeit der elektrischen
Strömung des Telegraphen zurück auf seine Stellung im Westen, auf seinen
Rang im Staatensystem der civilisirten Welt. Die orientalische Frage schwillt
von Jahr zu Jahr mehr an. War ihr Gegenstand anfänglich der Besitz Kon¬
stantinopels, so umfaßt sie jetzt ganz Asien bis zur Mündung des Amur
und bis zu den Inseln und Küsten Indiens, und schon die nächste Generation
wird es erleben, daß an den Höfen von Peking und Jeddo ein ähnliches
Intrigenspiel der Diplomatie, ein ähnliches Rivalisiren der europäischen
Mächte und ein ähnlicher Zersetzungsproccß der bisherigen Verhältnisse beginnt,
wie gegenwärtig und schon seit längerer Zeit in Stambul und Teheran. So
war das Interesse, das der indische Aufstand, der Krieg in China, und der
Frieden erweckte, welcher das himmlische Reich dem Handel Europas auf¬
schloß, ein berechtigtes, so die Theilnahme, welche die Verträge mit Japan
und die Erwerbung des Amurlandes durch Rußland allenthalben erregten,
eine begreifliche. So erklärt sich auch die Eifersucht, mit welcher namentlich
England die aufgedrungene Betheiligung der Franzosen an dem Kriege mit
China und den darauf folgenden Zug gegen Kochinchina oder Aram be¬
trachtete.

Längere Zeit waren es nur England und Rußland gewesen, die sich in
Ostasien als Nebenbuhler gegenüberstanden. Ganz allmälig und seit der
Besiedelung Kaliforniens rascher war zu ihnen auch die amerikanische Gro߬
macht getreten. Nun gesellte sich unerwartet als vierter Rival Frankreich da-


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[0371] Der Feldzug der Franzosen nach Kochinchina. Es gab eine Zeit, wo man von dem Auseinanderschlagen der Völker weit in der Türkei mit Behaglichkeit Notiz nehmen und dem Himmel danken konnte, daß es daheim ruhiges Wetter gab. Diese Zeit ist vorüber. Eisen¬ bahnen und Dampfschiffe haben die Beziehungen der Reiche und Welttheile zu¬ einander in sehr wesentlicher Weise umgestaltet, und sie werden sie in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren noch weit mehr verändern. Die Macht¬ erweiterung eines europäischen Staates selbst im fernsten Osten Asiens kann uns nicht mehr gleichgiltig sein, sie wirkt mit der Schnelligkeit der elektrischen Strömung des Telegraphen zurück auf seine Stellung im Westen, auf seinen Rang im Staatensystem der civilisirten Welt. Die orientalische Frage schwillt von Jahr zu Jahr mehr an. War ihr Gegenstand anfänglich der Besitz Kon¬ stantinopels, so umfaßt sie jetzt ganz Asien bis zur Mündung des Amur und bis zu den Inseln und Küsten Indiens, und schon die nächste Generation wird es erleben, daß an den Höfen von Peking und Jeddo ein ähnliches Intrigenspiel der Diplomatie, ein ähnliches Rivalisiren der europäischen Mächte und ein ähnlicher Zersetzungsproccß der bisherigen Verhältnisse beginnt, wie gegenwärtig und schon seit längerer Zeit in Stambul und Teheran. So war das Interesse, das der indische Aufstand, der Krieg in China, und der Frieden erweckte, welcher das himmlische Reich dem Handel Europas auf¬ schloß, ein berechtigtes, so die Theilnahme, welche die Verträge mit Japan und die Erwerbung des Amurlandes durch Rußland allenthalben erregten, eine begreifliche. So erklärt sich auch die Eifersucht, mit welcher namentlich England die aufgedrungene Betheiligung der Franzosen an dem Kriege mit China und den darauf folgenden Zug gegen Kochinchina oder Aram be¬ trachtete. Längere Zeit waren es nur England und Rußland gewesen, die sich in Ostasien als Nebenbuhler gegenüberstanden. Ganz allmälig und seit der Besiedelung Kaliforniens rascher war zu ihnen auch die amerikanische Gro߬ macht getreten. Nun gesellte sich unerwartet als vierter Rival Frankreich da- Grcnzbotcn I. 1869. 4g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/371>, abgerufen am 24.07.2024.