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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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als verfehlt, Ihre letzten Gründe haben beide verschwiegen. Sie liegen aber
aus der Hand.

England, der reichste Staat Europas, würde, vorausgesetzt, der Kanal
entspräche seinen Wünschen, nicht nach der Rente zu fragen haben, die er ab¬
würfe. Es würde sich in diesem Fall auch nicht ängstlich darum kümmern,
ob der Verbündete in Stambul dadurch beeinträchtigt würde. Ebenso wenig
geben handelspolitische Rücksichten hauptsächlich den Maßstab her. an dem
man die Angelegenheit in London mißt. Die größere Belebung der Kauf-
fahrteischisfahrt im Mittelmeer, die Hebung der dortigen Hafenstädte, die
Herstellung eines Seewegs, auf dem Oestreich. Italien und Frankreich ihre
Bedürfnisse an Nohproducten direct und mit geringern Kosten von Indien und
China importiren könnten, statt sie an der londoner Börse zu kaufen, mag
vielleicht nicht gern gesehen werden; aber das Selbstvertrauen der Engländer
und ihre Ueberzeugung, alle nicht grade durch Staatsgewalten geförderte Con-
currenz aus dem Felde schlagen zu können, ist viel zu stark und bis jetzt viel
zu berechtigt, als daß ein solcher Neid sich zur Furcht überflügelt zu werden
steigern könnte. Auch ist zu bemerken, daß in den hier in Betracht kommen¬
den Hauptgebietcn, in Indien, China, Japan und Australien, nicht die Fran¬
zosen oder Deutschen, sondern die Amerikaner die eigentlichen commerziellen
Nebenbuhler der Briten sind.

Die Bedenken der englischen Regierung gegen das Project des Suezkanals
sind vielmehr, wie wir früher bereits in der Kürze darzulegen versuchten, fast
ausschließlich politischer Natur. Wie im Westen Nicaragua durch eine sein
Gebiet durchschneidende Wasserstraße zwischen dem atlantischen und stillen
Ocean eine außerordentliche Bedeutung erlangen würde, so würde Aegypten
durch den Suezkanal (seine Erhaltbarkeit natürlich vorausgesetzt) eines der
wichtigsten Länder der alten Welt werden. Wie jetzt Alezandrien von Euro¬
päern der benachbarten Küsten und Inseln schwärmt und von Jahr zu Jahr
mehr eine italienische Physiognomie annimmt, so würde dann in wenigen
Decennien das ganze Nilgebiet bis über Kairo hinauf von Italienern. Fran¬
zosen und Griechen überschwemmt und besiedelt sein. Der Schwerpunkt des
türkischen Reichs würde durch solche Einwanderung von Norden nach Süden,
von Konstantinopel nach Kairo verrückt werden, und diese Verrückung des
Schwerpunktes müßte sehr bald zur Losreißung Aegyptens von der Herrschaft
der Pforte führen. Ein Fürsichbestehcn des Nillandes als eignes Reich unter
einem mohammedanischen Fürsten wäre in diesem Fall, wo die Europäer sich
in solcher Ausdehnung festgesetzt und mit Privilegien gegen die etwaigen
Willensäußerungen der Paschas gewahrt hätten, nicht wohl denkbar. Welcher
Europäer unterwürfe sich, wenn er Beistand in nächster Nähe wüßte, dein
Jntrigucnspiel eines orientalischen Hofes, und welcher europäische Diplomat


als verfehlt, Ihre letzten Gründe haben beide verschwiegen. Sie liegen aber
aus der Hand.

England, der reichste Staat Europas, würde, vorausgesetzt, der Kanal
entspräche seinen Wünschen, nicht nach der Rente zu fragen haben, die er ab¬
würfe. Es würde sich in diesem Fall auch nicht ängstlich darum kümmern,
ob der Verbündete in Stambul dadurch beeinträchtigt würde. Ebenso wenig
geben handelspolitische Rücksichten hauptsächlich den Maßstab her. an dem
man die Angelegenheit in London mißt. Die größere Belebung der Kauf-
fahrteischisfahrt im Mittelmeer, die Hebung der dortigen Hafenstädte, die
Herstellung eines Seewegs, auf dem Oestreich. Italien und Frankreich ihre
Bedürfnisse an Nohproducten direct und mit geringern Kosten von Indien und
China importiren könnten, statt sie an der londoner Börse zu kaufen, mag
vielleicht nicht gern gesehen werden; aber das Selbstvertrauen der Engländer
und ihre Ueberzeugung, alle nicht grade durch Staatsgewalten geförderte Con-
currenz aus dem Felde schlagen zu können, ist viel zu stark und bis jetzt viel
zu berechtigt, als daß ein solcher Neid sich zur Furcht überflügelt zu werden
steigern könnte. Auch ist zu bemerken, daß in den hier in Betracht kommen¬
den Hauptgebietcn, in Indien, China, Japan und Australien, nicht die Fran¬
zosen oder Deutschen, sondern die Amerikaner die eigentlichen commerziellen
Nebenbuhler der Briten sind.

Die Bedenken der englischen Regierung gegen das Project des Suezkanals
sind vielmehr, wie wir früher bereits in der Kürze darzulegen versuchten, fast
ausschließlich politischer Natur. Wie im Westen Nicaragua durch eine sein
Gebiet durchschneidende Wasserstraße zwischen dem atlantischen und stillen
Ocean eine außerordentliche Bedeutung erlangen würde, so würde Aegypten
durch den Suezkanal (seine Erhaltbarkeit natürlich vorausgesetzt) eines der
wichtigsten Länder der alten Welt werden. Wie jetzt Alezandrien von Euro¬
päern der benachbarten Küsten und Inseln schwärmt und von Jahr zu Jahr
mehr eine italienische Physiognomie annimmt, so würde dann in wenigen
Decennien das ganze Nilgebiet bis über Kairo hinauf von Italienern. Fran¬
zosen und Griechen überschwemmt und besiedelt sein. Der Schwerpunkt des
türkischen Reichs würde durch solche Einwanderung von Norden nach Süden,
von Konstantinopel nach Kairo verrückt werden, und diese Verrückung des
Schwerpunktes müßte sehr bald zur Losreißung Aegyptens von der Herrschaft
der Pforte führen. Ein Fürsichbestehcn des Nillandes als eignes Reich unter
einem mohammedanischen Fürsten wäre in diesem Fall, wo die Europäer sich
in solcher Ausdehnung festgesetzt und mit Privilegien gegen die etwaigen
Willensäußerungen der Paschas gewahrt hätten, nicht wohl denkbar. Welcher
Europäer unterwürfe sich, wenn er Beistand in nächster Nähe wüßte, dein
Jntrigucnspiel eines orientalischen Hofes, und welcher europäische Diplomat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/362>, abgerufen am 24.07.2024.