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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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sind zu keiner Zeit so viel Briefe geschrieben, und jeder Einzelne, den wir im
innern Zusammenhang seines Lebens und seiner Empfindungen kennen lernen,
gibt uns ein anschauliches Bild von der Entwicklung der Zeit im Allgemeinen.
Es hat schon damals nicht an Stimmen gefehlt, welche diese Subjectivitüt
als ein Unwesen, als eine Krankheit der Literatur beklagten, und der eifrigste
dieser Tadler. Fichte, hat sich sogar veranlaßt gefunden, infolge dessen sein
Zeitalter als das der vollendeten Sündhaftigkeit zu bezeichnen. Aber was
der Moralist mit Recht als eine Verirrung rügt, wird für den Historiker und
namentlich für den Biographen zum Gewinn, da in einem Zeitalter vollen¬
deter Sündlosigkeit die Biographie allen Neiz verlieren würde. Unter den
biographischen Versuchen der letzten Jahre nimmt der vorliegende, der in ganz
kurzer Zeit eine zweite Auflage erlebt hat, eine sehr respectable Stelle ein.
Unser Lob ist um so unparteiischer, da unser Standpunkt mit dem des Ver¬
fassers keineswegs zusammenfällt: wir haben über die Religion und ihren
Einfluß auf das Leben andere Ansichten als er, und infolge dessen weicht auch
unser Urtheil über das, was wir Claudius namentlich in seiner letzten Periode
schuldig sind, von dem seinigen ab. Aber es wäre ein unbilliges Verlangen,
in einer Biographie, die doch nur dann gelingen kann, wenn sie sich mit voller
Liebe in ihren Gegenstand vertieft, ein ganz unbefangenes Urtheil zu erwarten-
Der Biograph hat seine Schuldigkeit gethan, wenn er das zum Urtheil erforder¬
liche Material nach gründlicher Prüfung vollständig, correct und in der gehö¬
rigen Ordnung überliefert. Dieses Lob verdient der Verfasser im vollen Maß'
und es kommt noch das einer seineu Bildung hinzu, die sich namentlich in
einzelnen geistvollen Bemerkungen geltend macht. Nur eins hüllen wir an
der Ordnung der Thatsachen auszustellen, daß die chronologische Folge zwar
in der allgemeinen Uebersicht, aber nicht im Einzelnen festgehalten ist.

Noch ein Wort über die Abweichung in unsern Ansichten, ein Wort, das
um so nöthiger ist, da die reaktionäre Presse unsrer Tage, der es immer mehr
an Autoritäten zu fehlen scheint, sich plötzlich mit besondrer Vorliebe auf den
Wandsbecker Boten wirft und seine Einfälle zu Bußpredigten anwendet.

Es versteht sich von selbst, daß jeder Einzelne die durch mannigfache
Erfahrungen seines' Lebens und durch fortgesetztes Nachdenken gewonnene
Ueberzeugung für die rechte hält, die entgegengesetzte daher für falsch. Unter
diesen Umständen wäre jede Geselligkeit unmöglich, wenn uns nicht die Bil¬
dung bestimmte, den Gegner ausreden zu lassen und beim Anhören voraus¬
zusetzen, er werde seine Meinung, wenn sie auch irrig ist, ebenso gewissenhaft
erwogen haben, als wir die unsrige. Nur in einem Fall ist es uns erlaubt,
unwillig zu werden: wenn der Gegner sich uns gegenüber auf das Katheder
setzt, und doch handgreiflich verräth, er wisse nicht im Entferntesten, um was
es sich handelt. Und das war mit Claudius in seinen letzten Jahren der Fall-


sind zu keiner Zeit so viel Briefe geschrieben, und jeder Einzelne, den wir im
innern Zusammenhang seines Lebens und seiner Empfindungen kennen lernen,
gibt uns ein anschauliches Bild von der Entwicklung der Zeit im Allgemeinen.
Es hat schon damals nicht an Stimmen gefehlt, welche diese Subjectivitüt
als ein Unwesen, als eine Krankheit der Literatur beklagten, und der eifrigste
dieser Tadler. Fichte, hat sich sogar veranlaßt gefunden, infolge dessen sein
Zeitalter als das der vollendeten Sündhaftigkeit zu bezeichnen. Aber was
der Moralist mit Recht als eine Verirrung rügt, wird für den Historiker und
namentlich für den Biographen zum Gewinn, da in einem Zeitalter vollen¬
deter Sündlosigkeit die Biographie allen Neiz verlieren würde. Unter den
biographischen Versuchen der letzten Jahre nimmt der vorliegende, der in ganz
kurzer Zeit eine zweite Auflage erlebt hat, eine sehr respectable Stelle ein.
Unser Lob ist um so unparteiischer, da unser Standpunkt mit dem des Ver¬
fassers keineswegs zusammenfällt: wir haben über die Religion und ihren
Einfluß auf das Leben andere Ansichten als er, und infolge dessen weicht auch
unser Urtheil über das, was wir Claudius namentlich in seiner letzten Periode
schuldig sind, von dem seinigen ab. Aber es wäre ein unbilliges Verlangen,
in einer Biographie, die doch nur dann gelingen kann, wenn sie sich mit voller
Liebe in ihren Gegenstand vertieft, ein ganz unbefangenes Urtheil zu erwarten-
Der Biograph hat seine Schuldigkeit gethan, wenn er das zum Urtheil erforder¬
liche Material nach gründlicher Prüfung vollständig, correct und in der gehö¬
rigen Ordnung überliefert. Dieses Lob verdient der Verfasser im vollen Maß'
und es kommt noch das einer seineu Bildung hinzu, die sich namentlich in
einzelnen geistvollen Bemerkungen geltend macht. Nur eins hüllen wir an
der Ordnung der Thatsachen auszustellen, daß die chronologische Folge zwar
in der allgemeinen Uebersicht, aber nicht im Einzelnen festgehalten ist.

Noch ein Wort über die Abweichung in unsern Ansichten, ein Wort, das
um so nöthiger ist, da die reaktionäre Presse unsrer Tage, der es immer mehr
an Autoritäten zu fehlen scheint, sich plötzlich mit besondrer Vorliebe auf den
Wandsbecker Boten wirft und seine Einfälle zu Bußpredigten anwendet.

Es versteht sich von selbst, daß jeder Einzelne die durch mannigfache
Erfahrungen seines' Lebens und durch fortgesetztes Nachdenken gewonnene
Ueberzeugung für die rechte hält, die entgegengesetzte daher für falsch. Unter
diesen Umständen wäre jede Geselligkeit unmöglich, wenn uns nicht die Bil¬
dung bestimmte, den Gegner ausreden zu lassen und beim Anhören voraus¬
zusetzen, er werde seine Meinung, wenn sie auch irrig ist, ebenso gewissenhaft
erwogen haben, als wir die unsrige. Nur in einem Fall ist es uns erlaubt,
unwillig zu werden: wenn der Gegner sich uns gegenüber auf das Katheder
setzt, und doch handgreiflich verräth, er wisse nicht im Entferntesten, um was
es sich handelt. Und das war mit Claudius in seinen letzten Jahren der Fall-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/340>, abgerufen am 24.07.2024.