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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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hätte möglicherweise, wenn ihm grade jetzt die Gewißheit seiner Emancipation
gegeben worden wäre, mit gewaltsamen Versuchen sich unmittelbar in den
Besitz der Freiheit zu setzen, den Gegnern der Reformen und des Friedens
neue Waffen geliefert. Andererseits stand auch die eigentliche Armee noch
auf den Kriegsschauplätzen und unter Führung der Sippen und Vettern des¬
selben Nationaladels, welchem seine Hoffnungen abgeschnitten waren. Grade
bei der Heimkehr der Reichswehren mahnte also ein strenger Ministerialerlaß
die Leibeigenen an den unbedingten Gehorsam gegen die Leibherrn; unmit-
telbar nach der Ankunft der Armee in ihre Garnisonen und Cantonnements
wurden die Truppenkörper von einer neuen Eintheilung und Zusammensetzung
überrascht. So trennte man hier die alten, durch den Krieg noch enger ver¬
wachsenen Camerndericn und Zusammenhänge, während die Grundaristokratic,
deren Güter plötzlich von den heimgekehrten Leibeigenen überflutet waren, alle
Kräfte aufwenden mußte, um für deren nächste Lebensbedürfnisse zu sorgen und
den Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich ihren Erwerb anderwärts zu suchen.
Diejenigen Truppentheile aber, in denen die aristokratischen Elemente am dich¬
testen gehäuft sind, die Garderegimenter, wurden dadurch, daß man sie zuo
Dienst bei der Krönung nach Moskau commandirte, gleichzeitig ausgezeichnet,
und dennoch von ihren heimathlichen Beziehungen lange Monate noch fern¬
gehalten. Die Krönung selbst, indem sie nach einem Halbjahr dem Friedens-
abschluß folgte und natürlich alle aristokratische Elemente zusammenführte, ver¬
sammelte dieselben auf ungewohnten Terrain, unter außergewöhnliche"
Verhältnissen, aus ziemlich genau bemessene Zeit, in welcher die Theilnahme
aller an den Festlichkeiten jedes andere Interesse verschwinden ließ. Denjenigen
Elementen sogar, deren unbedingte Zustimmung zu einem Programm durch'
weg friedlicher Lebensentwicklungen am wenigsten bezweifelt werden konnte,
der speculativen und industriellen Bevölkerung, war noch vor dem Friedens¬
abschluß das gewaltige Problem des russischen Eisenbahnnetzes vorgelegt
worden, mit dessen Ausführung natürlich eine so vollständige Umgestaltung
aller Geschäftsverhältnisse bevorsteht, daß jeder Einzelne, zu seinem Berufe p>'
rückkehrend, diesen nicht wieder aufnehmen konnte, wie eine abgelaufene Uhr-
die man eben aufzieht. Jeder mußte vielmehr die Gewißheit dieser Zukunft
und die Unberechenbarkeit der socialen Reformen, deren werdende Gehen^
ebenso unsicher als ihr Werden gewiß erschien, in seine Berechnungen auf'
nehmen.

solchermaßen war ein Zeitraum schweigender und dabei innerlich liest^'
wegter Erwartung hergestellt, welche alle Blicke auf das Moment der Zaren-
krönung hinlenkte. Alle Hoffnungen, alle Befürchtungen harrten in fieberhaft^
Spannung dem damit bevorstehenden Ende der Ungewißheiten entgegen. Z"'
gleich fand der Nationalstolz seine vollste Befriedigung nicht blos in dem Powp


hätte möglicherweise, wenn ihm grade jetzt die Gewißheit seiner Emancipation
gegeben worden wäre, mit gewaltsamen Versuchen sich unmittelbar in den
Besitz der Freiheit zu setzen, den Gegnern der Reformen und des Friedens
neue Waffen geliefert. Andererseits stand auch die eigentliche Armee noch
auf den Kriegsschauplätzen und unter Führung der Sippen und Vettern des¬
selben Nationaladels, welchem seine Hoffnungen abgeschnitten waren. Grade
bei der Heimkehr der Reichswehren mahnte also ein strenger Ministerialerlaß
die Leibeigenen an den unbedingten Gehorsam gegen die Leibherrn; unmit-
telbar nach der Ankunft der Armee in ihre Garnisonen und Cantonnements
wurden die Truppenkörper von einer neuen Eintheilung und Zusammensetzung
überrascht. So trennte man hier die alten, durch den Krieg noch enger ver¬
wachsenen Camerndericn und Zusammenhänge, während die Grundaristokratic,
deren Güter plötzlich von den heimgekehrten Leibeigenen überflutet waren, alle
Kräfte aufwenden mußte, um für deren nächste Lebensbedürfnisse zu sorgen und
den Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich ihren Erwerb anderwärts zu suchen.
Diejenigen Truppentheile aber, in denen die aristokratischen Elemente am dich¬
testen gehäuft sind, die Garderegimenter, wurden dadurch, daß man sie zuo
Dienst bei der Krönung nach Moskau commandirte, gleichzeitig ausgezeichnet,
und dennoch von ihren heimathlichen Beziehungen lange Monate noch fern¬
gehalten. Die Krönung selbst, indem sie nach einem Halbjahr dem Friedens-
abschluß folgte und natürlich alle aristokratische Elemente zusammenführte, ver¬
sammelte dieselben auf ungewohnten Terrain, unter außergewöhnliche"
Verhältnissen, aus ziemlich genau bemessene Zeit, in welcher die Theilnahme
aller an den Festlichkeiten jedes andere Interesse verschwinden ließ. Denjenigen
Elementen sogar, deren unbedingte Zustimmung zu einem Programm durch'
weg friedlicher Lebensentwicklungen am wenigsten bezweifelt werden konnte,
der speculativen und industriellen Bevölkerung, war noch vor dem Friedens¬
abschluß das gewaltige Problem des russischen Eisenbahnnetzes vorgelegt
worden, mit dessen Ausführung natürlich eine so vollständige Umgestaltung
aller Geschäftsverhältnisse bevorsteht, daß jeder Einzelne, zu seinem Berufe p>'
rückkehrend, diesen nicht wieder aufnehmen konnte, wie eine abgelaufene Uhr-
die man eben aufzieht. Jeder mußte vielmehr die Gewißheit dieser Zukunft
und die Unberechenbarkeit der socialen Reformen, deren werdende Gehen^
ebenso unsicher als ihr Werden gewiß erschien, in seine Berechnungen auf'
nehmen.

solchermaßen war ein Zeitraum schweigender und dabei innerlich liest^'
wegter Erwartung hergestellt, welche alle Blicke auf das Moment der Zaren-
krönung hinlenkte. Alle Hoffnungen, alle Befürchtungen harrten in fieberhaft^
Spannung dem damit bevorstehenden Ende der Ungewißheiten entgegen. Z"'
gleich fand der Nationalstolz seine vollste Befriedigung nicht blos in dem Powp


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[0338] hätte möglicherweise, wenn ihm grade jetzt die Gewißheit seiner Emancipation gegeben worden wäre, mit gewaltsamen Versuchen sich unmittelbar in den Besitz der Freiheit zu setzen, den Gegnern der Reformen und des Friedens neue Waffen geliefert. Andererseits stand auch die eigentliche Armee noch auf den Kriegsschauplätzen und unter Führung der Sippen und Vettern des¬ selben Nationaladels, welchem seine Hoffnungen abgeschnitten waren. Grade bei der Heimkehr der Reichswehren mahnte also ein strenger Ministerialerlaß die Leibeigenen an den unbedingten Gehorsam gegen die Leibherrn; unmit- telbar nach der Ankunft der Armee in ihre Garnisonen und Cantonnements wurden die Truppenkörper von einer neuen Eintheilung und Zusammensetzung überrascht. So trennte man hier die alten, durch den Krieg noch enger ver¬ wachsenen Camerndericn und Zusammenhänge, während die Grundaristokratic, deren Güter plötzlich von den heimgekehrten Leibeigenen überflutet waren, alle Kräfte aufwenden mußte, um für deren nächste Lebensbedürfnisse zu sorgen und den Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich ihren Erwerb anderwärts zu suchen. Diejenigen Truppentheile aber, in denen die aristokratischen Elemente am dich¬ testen gehäuft sind, die Garderegimenter, wurden dadurch, daß man sie zuo Dienst bei der Krönung nach Moskau commandirte, gleichzeitig ausgezeichnet, und dennoch von ihren heimathlichen Beziehungen lange Monate noch fern¬ gehalten. Die Krönung selbst, indem sie nach einem Halbjahr dem Friedens- abschluß folgte und natürlich alle aristokratische Elemente zusammenführte, ver¬ sammelte dieselben auf ungewohnten Terrain, unter außergewöhnliche" Verhältnissen, aus ziemlich genau bemessene Zeit, in welcher die Theilnahme aller an den Festlichkeiten jedes andere Interesse verschwinden ließ. Denjenigen Elementen sogar, deren unbedingte Zustimmung zu einem Programm durch' weg friedlicher Lebensentwicklungen am wenigsten bezweifelt werden konnte, der speculativen und industriellen Bevölkerung, war noch vor dem Friedens¬ abschluß das gewaltige Problem des russischen Eisenbahnnetzes vorgelegt worden, mit dessen Ausführung natürlich eine so vollständige Umgestaltung aller Geschäftsverhältnisse bevorsteht, daß jeder Einzelne, zu seinem Berufe p>' rückkehrend, diesen nicht wieder aufnehmen konnte, wie eine abgelaufene Uhr- die man eben aufzieht. Jeder mußte vielmehr die Gewißheit dieser Zukunft und die Unberechenbarkeit der socialen Reformen, deren werdende Gehen^ ebenso unsicher als ihr Werden gewiß erschien, in seine Berechnungen auf' nehmen. solchermaßen war ein Zeitraum schweigender und dabei innerlich liest^' wegter Erwartung hergestellt, welche alle Blicke auf das Moment der Zaren- krönung hinlenkte. Alle Hoffnungen, alle Befürchtungen harrten in fieberhaft^ Spannung dem damit bevorstehenden Ende der Ungewißheiten entgegen. Z"' gleich fand der Nationalstolz seine vollste Befriedigung nicht blos in dem Powp

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/338>, abgerufen am 24.07.2024.