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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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von denen die Neugestaltungen des Lebens durch eine Initiative der Regie¬
rung ausgehn könnten.

Aus diesem Gesichtspunkt erscheint jene äußerste Steigerung der Kriegs¬
politik, welche im ersten Negierungsjcchre Alexanders sogar den Kriegsfana¬
tismus des Kaisers Nikolaus überholte, eine berechnete Vorbereitung für die
reformatorischen Zuknnftpläne. Mit den immer schwerer drückenden und immer
allgemeiner decimirenden Rekrutirungen, mit der auf alle Provinzen fortschrei¬
tenden Einstellung der Reichswehr in die eigentliche Opcrationsarmee und des
Landsturms in den wirklichen Felddienst, mit der allen Bewaffneten verliehe¬
nen Suspendirung ihrer bürgerlichen Nechtsverpflichtungen, mit der immer
gesteigerten Beseitigung der Herkommlichkeiten des Alltagslebens und der Er¬
werbsarbeit wichen die von Nikolaus bereits erschütterten Ordnungen der Ge¬
sellschaft und des Staats immer weiter auseinander, verloren die Lebens¬
gewohnheiten alle Stützen, trat ein blos militärisch überwachtes, nirgend
innerlich wurzelndes Ausnahmeleben ein. Eine Gegenwart ohne bedingende
Vergangenheit und ohne selbsteigene Zukunft entstand, welche vollkommen in
der augenblicklichen Kriegsanstrengung aufging. Je überraschender der Kaiser
daraus den Frieden folgen lassen konnte, desto unbedingter hielt die Regierung
die Initiative des neuen Lebens in ihrer Macht, wenn sie für dessen Ent¬
wicklungen im voraus ihre Pläne nicht blos allgemein entworfen, sondern mit
Bestimmtheit sich klar gemacht hatte.

Westeuropäischer Anschauung erscheint eine solche bewußte Verwüstung der
eingelebten Bestände zu Gunsten einer blos ideellen Zukunft allerdings ebenso
Undenkbar, wie sie unter unsern Staats- und Gesellschaftsverhältnisscn un¬
möglich ist. Anders in Rußland. Man braucht dabei gar nicht an die Ge¬
waltgriffe despotischer Zaren zu denken, welche Aehnliches nach bestimmten
Lebensrichtungen hin oftmals genug mit Erfolg gethan haben. Auch der
eine Zeit lang organisch rcformircndc und nach Nechtsverbesscrungen strebsame
Absolutismus Alexanders I. bietet ein ganz ähnliches Beispiel. In der Epoche
des Anlaufes vom Polizeistaat zum Rechtsstaat billigte es Alexander I. voll¬
kommen, daß Speranskys reformatorische Anordnungen im Verwaltung^-, Nechts-
Und Finanzwesen das Land verwirrten und alle Lebenssphären mit Mißver¬
gnügen erfüllten, damit die Gegner des Neuen "sich von der Unumgänglich¬
st der Reformen desto dringender überzeugen möchten." Damals ließ freilich
Imperator den Reformator im Stich, als grade die entscheidenden Schritte
um thun waren. Heute ist die Reform des Kaisers eigenstes Eigenthum, also
diese Gefahr nicht vorhanden.

Waren aber die Pläne der Friedensentwicklung, welche octroyirt werden
Eilten, waren die nächsten Friedensarbcitcn der Nation wirklich schon vorbe¬
reitet, als der Friede geschlossen ward? Die Aufeinanderfolge der seither an-


von denen die Neugestaltungen des Lebens durch eine Initiative der Regie¬
rung ausgehn könnten.

Aus diesem Gesichtspunkt erscheint jene äußerste Steigerung der Kriegs¬
politik, welche im ersten Negierungsjcchre Alexanders sogar den Kriegsfana¬
tismus des Kaisers Nikolaus überholte, eine berechnete Vorbereitung für die
reformatorischen Zuknnftpläne. Mit den immer schwerer drückenden und immer
allgemeiner decimirenden Rekrutirungen, mit der auf alle Provinzen fortschrei¬
tenden Einstellung der Reichswehr in die eigentliche Opcrationsarmee und des
Landsturms in den wirklichen Felddienst, mit der allen Bewaffneten verliehe¬
nen Suspendirung ihrer bürgerlichen Nechtsverpflichtungen, mit der immer
gesteigerten Beseitigung der Herkommlichkeiten des Alltagslebens und der Er¬
werbsarbeit wichen die von Nikolaus bereits erschütterten Ordnungen der Ge¬
sellschaft und des Staats immer weiter auseinander, verloren die Lebens¬
gewohnheiten alle Stützen, trat ein blos militärisch überwachtes, nirgend
innerlich wurzelndes Ausnahmeleben ein. Eine Gegenwart ohne bedingende
Vergangenheit und ohne selbsteigene Zukunft entstand, welche vollkommen in
der augenblicklichen Kriegsanstrengung aufging. Je überraschender der Kaiser
daraus den Frieden folgen lassen konnte, desto unbedingter hielt die Regierung
die Initiative des neuen Lebens in ihrer Macht, wenn sie für dessen Ent¬
wicklungen im voraus ihre Pläne nicht blos allgemein entworfen, sondern mit
Bestimmtheit sich klar gemacht hatte.

Westeuropäischer Anschauung erscheint eine solche bewußte Verwüstung der
eingelebten Bestände zu Gunsten einer blos ideellen Zukunft allerdings ebenso
Undenkbar, wie sie unter unsern Staats- und Gesellschaftsverhältnisscn un¬
möglich ist. Anders in Rußland. Man braucht dabei gar nicht an die Ge¬
waltgriffe despotischer Zaren zu denken, welche Aehnliches nach bestimmten
Lebensrichtungen hin oftmals genug mit Erfolg gethan haben. Auch der
eine Zeit lang organisch rcformircndc und nach Nechtsverbesscrungen strebsame
Absolutismus Alexanders I. bietet ein ganz ähnliches Beispiel. In der Epoche
des Anlaufes vom Polizeistaat zum Rechtsstaat billigte es Alexander I. voll¬
kommen, daß Speranskys reformatorische Anordnungen im Verwaltung^-, Nechts-
Und Finanzwesen das Land verwirrten und alle Lebenssphären mit Mißver¬
gnügen erfüllten, damit die Gegner des Neuen „sich von der Unumgänglich¬
st der Reformen desto dringender überzeugen möchten." Damals ließ freilich
Imperator den Reformator im Stich, als grade die entscheidenden Schritte
um thun waren. Heute ist die Reform des Kaisers eigenstes Eigenthum, also
diese Gefahr nicht vorhanden.

Waren aber die Pläne der Friedensentwicklung, welche octroyirt werden
Eilten, waren die nächsten Friedensarbcitcn der Nation wirklich schon vorbe¬
reitet, als der Friede geschlossen ward? Die Aufeinanderfolge der seither an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/335>, abgerufen am 24.07.2024.