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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Neimlssische RwlpMik.

Am 2. März 1859 endet das vierte Jahr der Herrschaft Alexanders II.
Nikolajewitsch über Nußland. Ein gewaltiger Nmgcstaltungsproceß durch¬
schreitet das Reich. Das Wort "Uebergangsperiode" ist auf allen Lippen.
Bei den Einen hat es den Sinn des Drängens, der Andere braucht es im
Sinne des Warners; vorläufig wird jedoch bei allen noch auf die Zukunft
verwiesen. Uebereinstimmend stellt man nur uns Nichtrussen die Zumuthung,
daß wir den lebhaften Willen zum Uebergang in die Cultur wie eine That
begrüßen und ihm als Morgengabe nicht blos Worte der Anerkennung dar¬
bringen. Unsere socialen Einrichtungen bezeichnet die russische Presse als
überlebt, unsere politischen Institutionen sind ein Gegenstand ihrer mitleidvollen
Kritik. Liest man ihre pathetischen Phrasen, so bleibt für Mitteleuropa nichts
übrig, als von Rußlands Leben das unsrige ins Schlepptau nehmen zu lassen.

Mit derartigen Ueberhebungen zaubert man sich nicht in die Solidarität
^r mit harter Arbeit errungenen, mit schweren Kämpfen festgestellten Civili¬
sation Europas. Aber die angebrochene Uebergangsperiode des russischen Le¬
bens erscheint allerdings bedeutsam genug, um der realen Politik, von wel¬
cher sie herangeführt wird, die aufmerksamste Beachtung zuzuwenden. Dies
uicht in kosmopolitischer Bewunderung der Zukunft, auf welche verwiesen wird,
sondern in nüchterner Betrachtung dessen, was geschehen ist.

Inhaltreich ist die bisherige Negierung Alexanders II. Damit ist jedoch
Großartigkeit ihrer Zukunft an sich noch nicht gewährleistet. Drei Zeit¬
abschnitte scheiden sich charakteristisch ziemlich scharf voneinander ab; ein lei¬
tender Neugestaltungsgcdanke verbindet sie dagegen untrennbar. Der erste,
^'egerische Abschnitt endet mit dem pariser Märzsrieden; der zweite, vorberei¬
tende findet seinen Abschluß in der Kaiserkrönung; der dritte ist zur organi¬
schen Anbahnung der Reformen vorgeschritten, ohne noch beendet zu sein.

Das Programm der kriegerischen Periode enthielt das Thronbesteigungs-
^"mischt vom 2. März 1855. Wohlgewählt waren die Vorbilder, welche
Kaiser Alexander II. als die seinigen bezeichnete. "So möge die Vorsehung


Grenzboten I. 1859. 41
Neimlssische RwlpMik.

Am 2. März 1859 endet das vierte Jahr der Herrschaft Alexanders II.
Nikolajewitsch über Nußland. Ein gewaltiger Nmgcstaltungsproceß durch¬
schreitet das Reich. Das Wort „Uebergangsperiode" ist auf allen Lippen.
Bei den Einen hat es den Sinn des Drängens, der Andere braucht es im
Sinne des Warners; vorläufig wird jedoch bei allen noch auf die Zukunft
verwiesen. Uebereinstimmend stellt man nur uns Nichtrussen die Zumuthung,
daß wir den lebhaften Willen zum Uebergang in die Cultur wie eine That
begrüßen und ihm als Morgengabe nicht blos Worte der Anerkennung dar¬
bringen. Unsere socialen Einrichtungen bezeichnet die russische Presse als
überlebt, unsere politischen Institutionen sind ein Gegenstand ihrer mitleidvollen
Kritik. Liest man ihre pathetischen Phrasen, so bleibt für Mitteleuropa nichts
übrig, als von Rußlands Leben das unsrige ins Schlepptau nehmen zu lassen.

Mit derartigen Ueberhebungen zaubert man sich nicht in die Solidarität
^r mit harter Arbeit errungenen, mit schweren Kämpfen festgestellten Civili¬
sation Europas. Aber die angebrochene Uebergangsperiode des russischen Le¬
bens erscheint allerdings bedeutsam genug, um der realen Politik, von wel¬
cher sie herangeführt wird, die aufmerksamste Beachtung zuzuwenden. Dies
uicht in kosmopolitischer Bewunderung der Zukunft, auf welche verwiesen wird,
sondern in nüchterner Betrachtung dessen, was geschehen ist.

Inhaltreich ist die bisherige Negierung Alexanders II. Damit ist jedoch
Großartigkeit ihrer Zukunft an sich noch nicht gewährleistet. Drei Zeit¬
abschnitte scheiden sich charakteristisch ziemlich scharf voneinander ab; ein lei¬
tender Neugestaltungsgcdanke verbindet sie dagegen untrennbar. Der erste,
^'egerische Abschnitt endet mit dem pariser Märzsrieden; der zweite, vorberei¬
tende findet seinen Abschluß in der Kaiserkrönung; der dritte ist zur organi¬
schen Anbahnung der Reformen vorgeschritten, ohne noch beendet zu sein.

Das Programm der kriegerischen Periode enthielt das Thronbesteigungs-
^«mischt vom 2. März 1855. Wohlgewählt waren die Vorbilder, welche
Kaiser Alexander II. als die seinigen bezeichnete. „So möge die Vorsehung


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[0331] Neimlssische RwlpMik. Am 2. März 1859 endet das vierte Jahr der Herrschaft Alexanders II. Nikolajewitsch über Nußland. Ein gewaltiger Nmgcstaltungsproceß durch¬ schreitet das Reich. Das Wort „Uebergangsperiode" ist auf allen Lippen. Bei den Einen hat es den Sinn des Drängens, der Andere braucht es im Sinne des Warners; vorläufig wird jedoch bei allen noch auf die Zukunft verwiesen. Uebereinstimmend stellt man nur uns Nichtrussen die Zumuthung, daß wir den lebhaften Willen zum Uebergang in die Cultur wie eine That begrüßen und ihm als Morgengabe nicht blos Worte der Anerkennung dar¬ bringen. Unsere socialen Einrichtungen bezeichnet die russische Presse als überlebt, unsere politischen Institutionen sind ein Gegenstand ihrer mitleidvollen Kritik. Liest man ihre pathetischen Phrasen, so bleibt für Mitteleuropa nichts übrig, als von Rußlands Leben das unsrige ins Schlepptau nehmen zu lassen. Mit derartigen Ueberhebungen zaubert man sich nicht in die Solidarität ^r mit harter Arbeit errungenen, mit schweren Kämpfen festgestellten Civili¬ sation Europas. Aber die angebrochene Uebergangsperiode des russischen Le¬ bens erscheint allerdings bedeutsam genug, um der realen Politik, von wel¬ cher sie herangeführt wird, die aufmerksamste Beachtung zuzuwenden. Dies uicht in kosmopolitischer Bewunderung der Zukunft, auf welche verwiesen wird, sondern in nüchterner Betrachtung dessen, was geschehen ist. Inhaltreich ist die bisherige Negierung Alexanders II. Damit ist jedoch Großartigkeit ihrer Zukunft an sich noch nicht gewährleistet. Drei Zeit¬ abschnitte scheiden sich charakteristisch ziemlich scharf voneinander ab; ein lei¬ tender Neugestaltungsgcdanke verbindet sie dagegen untrennbar. Der erste, ^'egerische Abschnitt endet mit dem pariser Märzsrieden; der zweite, vorberei¬ tende findet seinen Abschluß in der Kaiserkrönung; der dritte ist zur organi¬ schen Anbahnung der Reformen vorgeschritten, ohne noch beendet zu sein. Das Programm der kriegerischen Periode enthielt das Thronbesteigungs- ^«mischt vom 2. März 1855. Wohlgewählt waren die Vorbilder, welche Kaiser Alexander II. als die seinigen bezeichnete. „So möge die Vorsehung Grenzboten I. 1859. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/331>, abgerufen am 24.07.2024.