Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

alte Annahme. Valois, d'Urville und Walkenaör erkannten in dem heutigen
Alise-Sainte Reine die Ueberbleibsel des alten Alesia.

Wenn nun im Jahre 1855 eine vereinzelte Stimme sich vernehmen ließ,
welche der Sage, der Ueberlieferung wie der Forschung zum Trotz die Oertlich-
keit der großen Kämpfe vor Alesia in den Jura verlegte, und damit den ZU"
sammenhang der Begebenheiten verrückte, so war dies an sich nicht erheblich
und Hütte mindestens keinen entscheidenden Ausschlag geben können. Wie
viele widersinnige Einfälle sind nicht im Lause der Jahrhunderte aufgetaucht,
um wie Pflanzen mit halbverdorrten Wurzeln in sich selber zu verkomme"!
Aber das Gebahren dieser neuen Weisheit, ihre Selbstgefälligkeit und her"
rische Aufgeblasenheit waren so herausfordernd, daß alsbald zu thatkräftige"
Maßregeln geschritten werden mußte. Dies ist der vorspringende Punkt der
Angelegenheit. Die Art, wie das Hirngespinnst eines Einzelnen sich der offene'
lichen Meinung bemächtigte, wie man den krankhaften Keim einer falsche"
Voraussetzung zu einem Schwall übereinanderliegender Schichten von Irrungen-
Verdrehungen und Trugschlüssen aufthürmte, der, wenn man des Gemengsels nicht
Meister geworden wäre, alle geschichtliche Forschung auf den Kopf gestellt habe"
würde -- diese seltsame geistige Bewegung wirst ein überraschendes Licht auf die
literarischen Zustände unserer Zeit und Frankreichs insbesondere. Der Ausganß
hat glücklicherweise eine sehr tröstliche Seite, und ich will versuchen, die einzelne"
Momente des Verlaufes auch einem größeren Kreise von Lesern zu verdeutliche"'

In Behar<)on lebt der Baumeister Delacroix, und wirkt zugleich als
Vorstand einer dortigen gemeinnützigen Gesellschaft (Locietö et'ümuliition)'
Dieser Mann stieß auf seinen Wanderungen auf das Dörfchen Alaise. Der
Klang des Namens gemahnte ihn an das Alesia der gallischen Zeit; plötzlich
standen Cäsar und Vercingctorix vor seinen Augen; eine Vermuthung drängt
die andere, und allmülig wuchs unter seinem geschäftigen Meisel ein neu"
gebornes Alesia empor. Das Alaise des Herrn Delacroiz- aber liegt ohnweit
des Mont Poupet, in der Nähe von Salms, mitten in den Vorbergen des
Jura. Die Häuser des Dorfs find allerdings über eine kleine Hochebene
zerstreut; aber diese ist äußerst holprig, wird von höheren und steilen Bergen
beherrscht, und von Schluchten begrenzt, welche die Entwicklung größerer
Massen unmöglich machen. Vor allein aber fehlt die geräumige Ebene, von wei'
eher Cäsar spricht, und woselbst man sein Lager so wie die Berschanzungen des
gallischen Hilssheeres unterbringen könnte. Alle diese augenfälligen Schwierig'
leiten störten Herrn Delacroix wenig; er baute wohlgemut!) sein neues Alast"
in die Höhe und legte die gemachte Entdeckung in den Denkschriften sein^
Gesellschaft") nieder. Dies war ein erster Schritt; aber man mußte, um ^



') MümoirLS et. 1. Loeiütü ä'ümulution ein alvi>. nu vouds. 1855. ^.kohi", 1'^
volcrei'vix. x. 113 -- 160.

alte Annahme. Valois, d'Urville und Walkenaör erkannten in dem heutigen
Alise-Sainte Reine die Ueberbleibsel des alten Alesia.

Wenn nun im Jahre 1855 eine vereinzelte Stimme sich vernehmen ließ,
welche der Sage, der Ueberlieferung wie der Forschung zum Trotz die Oertlich-
keit der großen Kämpfe vor Alesia in den Jura verlegte, und damit den ZU"
sammenhang der Begebenheiten verrückte, so war dies an sich nicht erheblich
und Hütte mindestens keinen entscheidenden Ausschlag geben können. Wie
viele widersinnige Einfälle sind nicht im Lause der Jahrhunderte aufgetaucht,
um wie Pflanzen mit halbverdorrten Wurzeln in sich selber zu verkomme»!
Aber das Gebahren dieser neuen Weisheit, ihre Selbstgefälligkeit und her"
rische Aufgeblasenheit waren so herausfordernd, daß alsbald zu thatkräftige»
Maßregeln geschritten werden mußte. Dies ist der vorspringende Punkt der
Angelegenheit. Die Art, wie das Hirngespinnst eines Einzelnen sich der offene'
lichen Meinung bemächtigte, wie man den krankhaften Keim einer falsche»
Voraussetzung zu einem Schwall übereinanderliegender Schichten von Irrungen-
Verdrehungen und Trugschlüssen aufthürmte, der, wenn man des Gemengsels nicht
Meister geworden wäre, alle geschichtliche Forschung auf den Kopf gestellt habe»
würde — diese seltsame geistige Bewegung wirst ein überraschendes Licht auf die
literarischen Zustände unserer Zeit und Frankreichs insbesondere. Der Ausganß
hat glücklicherweise eine sehr tröstliche Seite, und ich will versuchen, die einzelne»
Momente des Verlaufes auch einem größeren Kreise von Lesern zu verdeutliche»'

In Behar<)on lebt der Baumeister Delacroix, und wirkt zugleich als
Vorstand einer dortigen gemeinnützigen Gesellschaft (Locietö et'ümuliition)'
Dieser Mann stieß auf seinen Wanderungen auf das Dörfchen Alaise. Der
Klang des Namens gemahnte ihn an das Alesia der gallischen Zeit; plötzlich
standen Cäsar und Vercingctorix vor seinen Augen; eine Vermuthung drängt
die andere, und allmülig wuchs unter seinem geschäftigen Meisel ein neu"
gebornes Alesia empor. Das Alaise des Herrn Delacroiz- aber liegt ohnweit
des Mont Poupet, in der Nähe von Salms, mitten in den Vorbergen des
Jura. Die Häuser des Dorfs find allerdings über eine kleine Hochebene
zerstreut; aber diese ist äußerst holprig, wird von höheren und steilen Bergen
beherrscht, und von Schluchten begrenzt, welche die Entwicklung größerer
Massen unmöglich machen. Vor allein aber fehlt die geräumige Ebene, von wei'
eher Cäsar spricht, und woselbst man sein Lager so wie die Berschanzungen des
gallischen Hilssheeres unterbringen könnte. Alle diese augenfälligen Schwierig'
leiten störten Herrn Delacroix wenig; er baute wohlgemut!) sein neues Alast"
in die Höhe und legte die gemachte Entdeckung in den Denkschriften sein^
Gesellschaft") nieder. Dies war ein erster Schritt; aber man mußte, um ^



') MümoirLS et. 1. Loeiütü ä'ümulution ein alvi>. nu vouds. 1855. ^.kohi», 1'^
volcrei'vix. x. 113 — 160.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187258"/>
          <p xml:id="ID_864" prev="#ID_863"> alte Annahme. Valois, d'Urville und Walkenaör erkannten in dem heutigen<lb/>
Alise-Sainte Reine die Ueberbleibsel des alten Alesia.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_865"> Wenn nun im Jahre 1855 eine vereinzelte Stimme sich vernehmen ließ,<lb/>
welche der Sage, der Ueberlieferung wie der Forschung zum Trotz die Oertlich-<lb/>
keit der großen Kämpfe vor Alesia in den Jura verlegte, und damit den ZU"<lb/>
sammenhang der Begebenheiten verrückte, so war dies an sich nicht erheblich<lb/>
und Hütte mindestens keinen entscheidenden Ausschlag geben können. Wie<lb/>
viele widersinnige Einfälle sind nicht im Lause der Jahrhunderte aufgetaucht,<lb/>
um wie Pflanzen mit halbverdorrten Wurzeln in sich selber zu verkomme»!<lb/>
Aber das Gebahren dieser neuen Weisheit, ihre Selbstgefälligkeit und her"<lb/>
rische Aufgeblasenheit waren so herausfordernd, daß alsbald zu thatkräftige»<lb/>
Maßregeln geschritten werden mußte. Dies ist der vorspringende Punkt der<lb/>
Angelegenheit. Die Art, wie das Hirngespinnst eines Einzelnen sich der offene'<lb/>
lichen Meinung bemächtigte, wie man den krankhaften Keim einer falsche»<lb/>
Voraussetzung zu einem Schwall übereinanderliegender Schichten von Irrungen-<lb/>
Verdrehungen und Trugschlüssen aufthürmte, der, wenn man des Gemengsels nicht<lb/>
Meister geworden wäre, alle geschichtliche Forschung auf den Kopf gestellt habe»<lb/>
würde &#x2014; diese seltsame geistige Bewegung wirst ein überraschendes Licht auf die<lb/>
literarischen Zustände unserer Zeit und Frankreichs insbesondere. Der Ausganß<lb/>
hat glücklicherweise eine sehr tröstliche Seite, und ich will versuchen, die einzelne»<lb/>
Momente des Verlaufes auch einem größeren Kreise von Lesern zu verdeutliche»'</p><lb/>
          <p xml:id="ID_866" next="#ID_867"> In Behar&lt;)on lebt der Baumeister Delacroix, und wirkt zugleich als<lb/>
Vorstand einer dortigen gemeinnützigen Gesellschaft (Locietö et'ümuliition)'<lb/>
Dieser Mann stieß auf seinen Wanderungen auf das Dörfchen Alaise. Der<lb/>
Klang des Namens gemahnte ihn an das Alesia der gallischen Zeit; plötzlich<lb/>
standen Cäsar und Vercingctorix vor seinen Augen; eine Vermuthung drängt<lb/>
die andere, und allmülig wuchs unter seinem geschäftigen Meisel ein neu"<lb/>
gebornes Alesia empor. Das Alaise des Herrn Delacroiz- aber liegt ohnweit<lb/>
des Mont Poupet, in der Nähe von Salms, mitten in den Vorbergen des<lb/>
Jura. Die Häuser des Dorfs find allerdings über eine kleine Hochebene<lb/>
zerstreut; aber diese ist äußerst holprig, wird von höheren und steilen Bergen<lb/>
beherrscht, und von Schluchten begrenzt, welche die Entwicklung größerer<lb/>
Massen unmöglich machen. Vor allein aber fehlt die geräumige Ebene, von wei'<lb/>
eher Cäsar spricht, und woselbst man sein Lager so wie die Berschanzungen des<lb/>
gallischen Hilssheeres unterbringen könnte. Alle diese augenfälligen Schwierig'<lb/>
leiten störten Herrn Delacroix wenig; er baute wohlgemut!) sein neues Alast"<lb/>
in die Höhe und legte die gemachte Entdeckung in den Denkschriften sein^<lb/>
Gesellschaft") nieder.  Dies war ein erster Schritt; aber man mußte, um ^</p><lb/>
          <note xml:id="FID_37" place="foot"> ') MümoirLS et. 1. Loeiütü ä'ümulution ein alvi&gt;. nu vouds. 1855.  ^.kohi», 1'^<lb/>
volcrei'vix. x. 113 &#x2014; 160.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0306] alte Annahme. Valois, d'Urville und Walkenaör erkannten in dem heutigen Alise-Sainte Reine die Ueberbleibsel des alten Alesia. Wenn nun im Jahre 1855 eine vereinzelte Stimme sich vernehmen ließ, welche der Sage, der Ueberlieferung wie der Forschung zum Trotz die Oertlich- keit der großen Kämpfe vor Alesia in den Jura verlegte, und damit den ZU" sammenhang der Begebenheiten verrückte, so war dies an sich nicht erheblich und Hütte mindestens keinen entscheidenden Ausschlag geben können. Wie viele widersinnige Einfälle sind nicht im Lause der Jahrhunderte aufgetaucht, um wie Pflanzen mit halbverdorrten Wurzeln in sich selber zu verkomme»! Aber das Gebahren dieser neuen Weisheit, ihre Selbstgefälligkeit und her" rische Aufgeblasenheit waren so herausfordernd, daß alsbald zu thatkräftige» Maßregeln geschritten werden mußte. Dies ist der vorspringende Punkt der Angelegenheit. Die Art, wie das Hirngespinnst eines Einzelnen sich der offene' lichen Meinung bemächtigte, wie man den krankhaften Keim einer falsche» Voraussetzung zu einem Schwall übereinanderliegender Schichten von Irrungen- Verdrehungen und Trugschlüssen aufthürmte, der, wenn man des Gemengsels nicht Meister geworden wäre, alle geschichtliche Forschung auf den Kopf gestellt habe» würde — diese seltsame geistige Bewegung wirst ein überraschendes Licht auf die literarischen Zustände unserer Zeit und Frankreichs insbesondere. Der Ausganß hat glücklicherweise eine sehr tröstliche Seite, und ich will versuchen, die einzelne» Momente des Verlaufes auch einem größeren Kreise von Lesern zu verdeutliche»' In Behar<)on lebt der Baumeister Delacroix, und wirkt zugleich als Vorstand einer dortigen gemeinnützigen Gesellschaft (Locietö et'ümuliition)' Dieser Mann stieß auf seinen Wanderungen auf das Dörfchen Alaise. Der Klang des Namens gemahnte ihn an das Alesia der gallischen Zeit; plötzlich standen Cäsar und Vercingctorix vor seinen Augen; eine Vermuthung drängt die andere, und allmülig wuchs unter seinem geschäftigen Meisel ein neu" gebornes Alesia empor. Das Alaise des Herrn Delacroiz- aber liegt ohnweit des Mont Poupet, in der Nähe von Salms, mitten in den Vorbergen des Jura. Die Häuser des Dorfs find allerdings über eine kleine Hochebene zerstreut; aber diese ist äußerst holprig, wird von höheren und steilen Bergen beherrscht, und von Schluchten begrenzt, welche die Entwicklung größerer Massen unmöglich machen. Vor allein aber fehlt die geräumige Ebene, von wei' eher Cäsar spricht, und woselbst man sein Lager so wie die Berschanzungen des gallischen Hilssheeres unterbringen könnte. Alle diese augenfälligen Schwierig' leiten störten Herrn Delacroix wenig; er baute wohlgemut!) sein neues Alast" in die Höhe und legte die gemachte Entdeckung in den Denkschriften sein^ Gesellschaft") nieder. Dies war ein erster Schritt; aber man mußte, um ^ ') MümoirLS et. 1. Loeiütü ä'ümulution ein alvi>. nu vouds. 1855. ^.kohi», 1'^ volcrei'vix. x. 113 — 160.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/306
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/306>, abgerufen am 24.07.2024.