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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Stütze einer höheren Autorität uns abgeht, desto schonender müssen wir gegen
den Standpunkt unsrer Brüder sein, denen dies heilige Amt obliegt. Die
augenblicklichen und localen Uebelstände einer geistlosen Rechtgläubigst drän¬
gen sich freilich dem Einzelnen sehr lebhaft auf. und ein locales Heilmittel,
wie die Gründung einer Separatistengemeinde. mag unter Umständen für das
Ganze unschädlich sein, obgleich es grade für den Gebildeten immer bedenk¬
lich bleibt, sich in einer Sekte dem allgemeinen Leben des Volks zu entziehn.
Aber dies Radicalmittel. allgemein angewandt, würde die Auflösung des
ganzen Organismus zur Folge haben. Freilich ist es unbequem, wenn e.n
doctrinäres Konsistorium oder ein ooctrinärer Oberkirchenrath seine verlebten
Doctrinen in der gesammten Kirche geltend macht; aber besser diese Doctrinen
als die Freilassung der subjectiven Schwärmerei! So trotzig ein reaktionärer
Oberkirchenrath oder ein reactionäres Konsistorium uns. der Masse der Ge¬
lehrten und Gebildeten gegenüber auftritt, so haben wir doch aus Konsistorien
und Facultäten indirect einen weit größern Einfluß, als auf den ungegliederten
Pöbel. Die Manie des Tischrückens war unschädlich, aber was für Manier
aller Art würden sich nicht der Masse bemächtigen, wenn die Subjectwitüt in
einer festen Ordnung der Kirche keinen Widerstand fände!

Vielleicht findet man in unsern Ansichten einen Widerspruch; vielleicht
findet man die Forderung, daß der Staat keine Theologie treiben solle, mit
d°r Forderung, daß die protestantische Kirche mit dem protestantischen Staate
in innigem Zusammenhang bleiben solle, unvereinbar. Daraus haben wir
Folgendes zu erwidern.

Nicht blos vom Staat wünschen wir. daß- er sich von der Theologie frei
halte, sondern wir wünschen auch von der Kirche, daß sie die Theologie nur
in ihren Mußestunden treibe. In dieser Beziehung stehen wir auf dem Boden
Kants. Herders und Schleiermachers. Der Prediger sei ein Seelsorger, kein
Kasuist.

Ferner lassen wir den principiellen Unterschied, den man namentlich in
einem Theil der Demokratie zwischen Staat und Gemeinde macht, nicht gelten.
Es ist das auch eine von jenen unglückseligen Abstractionen, durch die in
unsre Begriffe eine babylonische Verwirrung gekommen ist. Politische Gewalt
ist Politische Gewalt, mag ihr Umfang groß oder klein sein. Gleichviel ob
von der durch die Stände controlirten Staatsregierung oder von dem durch
die Stadtverordneten controlirten Magistrat, von dem durch den Kreistag con¬
trolirten Landrcrth oder von dem durch die Gemeindeältesten controlirten Schulzen
die Rede ist : überall sind es politische Gewalten, und weder das Ministerium
noch der Magistrat, weder der Landrath noch der Schulze sollen als solche
Theologie treiben; sie sollen ihre Maßregeln lediglich nach dem Gesetz und
den bürgerlichen Interessen einrichten. Es ist keine leere Formel, wenn man


Stütze einer höheren Autorität uns abgeht, desto schonender müssen wir gegen
den Standpunkt unsrer Brüder sein, denen dies heilige Amt obliegt. Die
augenblicklichen und localen Uebelstände einer geistlosen Rechtgläubigst drän¬
gen sich freilich dem Einzelnen sehr lebhaft auf. und ein locales Heilmittel,
wie die Gründung einer Separatistengemeinde. mag unter Umständen für das
Ganze unschädlich sein, obgleich es grade für den Gebildeten immer bedenk¬
lich bleibt, sich in einer Sekte dem allgemeinen Leben des Volks zu entziehn.
Aber dies Radicalmittel. allgemein angewandt, würde die Auflösung des
ganzen Organismus zur Folge haben. Freilich ist es unbequem, wenn e.n
doctrinäres Konsistorium oder ein ooctrinärer Oberkirchenrath seine verlebten
Doctrinen in der gesammten Kirche geltend macht; aber besser diese Doctrinen
als die Freilassung der subjectiven Schwärmerei! So trotzig ein reaktionärer
Oberkirchenrath oder ein reactionäres Konsistorium uns. der Masse der Ge¬
lehrten und Gebildeten gegenüber auftritt, so haben wir doch aus Konsistorien
und Facultäten indirect einen weit größern Einfluß, als auf den ungegliederten
Pöbel. Die Manie des Tischrückens war unschädlich, aber was für Manier
aller Art würden sich nicht der Masse bemächtigen, wenn die Subjectwitüt in
einer festen Ordnung der Kirche keinen Widerstand fände!

Vielleicht findet man in unsern Ansichten einen Widerspruch; vielleicht
findet man die Forderung, daß der Staat keine Theologie treiben solle, mit
d°r Forderung, daß die protestantische Kirche mit dem protestantischen Staate
in innigem Zusammenhang bleiben solle, unvereinbar. Daraus haben wir
Folgendes zu erwidern.

Nicht blos vom Staat wünschen wir. daß- er sich von der Theologie frei
halte, sondern wir wünschen auch von der Kirche, daß sie die Theologie nur
in ihren Mußestunden treibe. In dieser Beziehung stehen wir auf dem Boden
Kants. Herders und Schleiermachers. Der Prediger sei ein Seelsorger, kein
Kasuist.

Ferner lassen wir den principiellen Unterschied, den man namentlich in
einem Theil der Demokratie zwischen Staat und Gemeinde macht, nicht gelten.
Es ist das auch eine von jenen unglückseligen Abstractionen, durch die in
unsre Begriffe eine babylonische Verwirrung gekommen ist. Politische Gewalt
ist Politische Gewalt, mag ihr Umfang groß oder klein sein. Gleichviel ob
von der durch die Stände controlirten Staatsregierung oder von dem durch
die Stadtverordneten controlirten Magistrat, von dem durch den Kreistag con¬
trolirten Landrcrth oder von dem durch die Gemeindeältesten controlirten Schulzen
die Rede ist : überall sind es politische Gewalten, und weder das Ministerium
noch der Magistrat, weder der Landrath noch der Schulze sollen als solche
Theologie treiben; sie sollen ihre Maßregeln lediglich nach dem Gesetz und
den bürgerlichen Interessen einrichten. Es ist keine leere Formel, wenn man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/29>, abgerufen am 24.07.2024.