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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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fremdartigen nordischen Geschmacksformen sich zu assimiliren, ebenso wenig
aber sie als principwidrig zurückzuweisen, so vollzog Italien diese formale
Läuterung im fünfzehnten Jahrhundert in der Renaissance. Die Renaissance
bezeichneten wir oben als den architektonischen Ausdruck der im fünfzehnten
Jahrhundert begonnenen Sinneswandelung. Das Mittelalter stützte sich eins
den Individualismus, der Individualismus aber war ein unfreier, durch die
Autorität gebundener. Die Negation der Natur und ihrer Rechte, die Allein¬
herrschaft des Geistes war das mit sclbstvernichtendcr Begeisterung erstrebte
Ziel der mittelalterlichen Welt. Kehrte sich aber ein solches Streben gegen
die natürliche Basis der menschlichen Existenz und sonnte es darum nur in der
Extase seinen Haltpunkt finden, so mußte es naturnothwendig mit dem Verfliegen
der Extase seinen Haltpunkt verlieren. Der Geist erkannte sich in seiner Einsei'
tigkeit. erkannte die Unmöglichkeit, ans sich heraus durch Negation alles außer ihn'
Gegebenen zur Befriedigung zu gelangen. Diese Erkenntniß war eine unerläß-
liche. Der Geist mußte sich seiner Schranken bewußt werden, um in der
Natur ein ihm gleichberechtigtes Moment anzuerkennen, das nicht durch Ne¬
gation zu überwinden, nur durch Annahme zu versöhnen sei. Diese Versöh¬
nung von Geist und Natur ist aber das Princip des modernen Ideals.
Mittelalter war die Individualität eine unfreie, die neue Zeit ist von dein
Streben nach individueller Freiheit erfüllt. Deutschland ward zum Banner¬
träger dieses Freiheitsstrebens auf religiösem Gebiet (in der Reformation),
Italien auf dem Gebiet der Kunst.

Das moderne Ideal ist die Versöhnung von Geist und Natur; der arcl)''
tektonische Ausdruck dieses Ideals aber konnte nur in der Verschmelzung de6
mittelalterlichen und antiken Bauprincips gefunden werden. Diese Verschwel
zung hatte Italien im Mittelalter begonnen, im fünfzehnten Jahrhundert rü't
gesteigertem Bewußtsein sortgesetzt. Die Frucht dieser Bestrebungen ist d>t
Renaissance. -- Im gothischen Stil, in welchem der mittelalterliche Gedanke
seine großartigste Verkörperung gefunden, hatte sich die Schöpferkraft der ge^
manischen Völker erschöpft. Wie dem mittelalterlichen Ideal mit der Ext^
seine innerste Lebenskraft schwand, so mußte der gothischen Kunst, die ja
architektonische Ausdruck jenes Ideals gewesen, mit dem Ideal der nähret
Boden verloren gehen. Die gothische Architektur baut sich, dem mittelalter¬
lichen Gedanken parallel, in strengster rücksichtslosester Consequenz auf. ^
Consequenz wurzelt eben im Gedanken. Wankte aber der Grund, auf de>"
das stolze Gebäude sich erhob, so mußte der ganze Bau unabänderlich in se^
zusammenbrechen, denn auf diesem Grund und darauf in einseitiger Corise'
quenz war er eben errichtet. Je strenger aber die Consequenz des gothisch
Systems gewesen war, um so unwiderstehlicher mußte sich die Auflösung ^
ihm vollziehen. Der italienischen Kunst aber erwuchs aus jener Auflösn'^


fremdartigen nordischen Geschmacksformen sich zu assimiliren, ebenso wenig
aber sie als principwidrig zurückzuweisen, so vollzog Italien diese formale
Läuterung im fünfzehnten Jahrhundert in der Renaissance. Die Renaissance
bezeichneten wir oben als den architektonischen Ausdruck der im fünfzehnten
Jahrhundert begonnenen Sinneswandelung. Das Mittelalter stützte sich eins
den Individualismus, der Individualismus aber war ein unfreier, durch die
Autorität gebundener. Die Negation der Natur und ihrer Rechte, die Allein¬
herrschaft des Geistes war das mit sclbstvernichtendcr Begeisterung erstrebte
Ziel der mittelalterlichen Welt. Kehrte sich aber ein solches Streben gegen
die natürliche Basis der menschlichen Existenz und sonnte es darum nur in der
Extase seinen Haltpunkt finden, so mußte es naturnothwendig mit dem Verfliegen
der Extase seinen Haltpunkt verlieren. Der Geist erkannte sich in seiner Einsei'
tigkeit. erkannte die Unmöglichkeit, ans sich heraus durch Negation alles außer ihn'
Gegebenen zur Befriedigung zu gelangen. Diese Erkenntniß war eine unerläß-
liche. Der Geist mußte sich seiner Schranken bewußt werden, um in der
Natur ein ihm gleichberechtigtes Moment anzuerkennen, das nicht durch Ne¬
gation zu überwinden, nur durch Annahme zu versöhnen sei. Diese Versöh¬
nung von Geist und Natur ist aber das Princip des modernen Ideals.
Mittelalter war die Individualität eine unfreie, die neue Zeit ist von dein
Streben nach individueller Freiheit erfüllt. Deutschland ward zum Banner¬
träger dieses Freiheitsstrebens auf religiösem Gebiet (in der Reformation),
Italien auf dem Gebiet der Kunst.

Das moderne Ideal ist die Versöhnung von Geist und Natur; der arcl)''
tektonische Ausdruck dieses Ideals aber konnte nur in der Verschmelzung de6
mittelalterlichen und antiken Bauprincips gefunden werden. Diese Verschwel
zung hatte Italien im Mittelalter begonnen, im fünfzehnten Jahrhundert rü't
gesteigertem Bewußtsein sortgesetzt. Die Frucht dieser Bestrebungen ist d>t
Renaissance. — Im gothischen Stil, in welchem der mittelalterliche Gedanke
seine großartigste Verkörperung gefunden, hatte sich die Schöpferkraft der ge^
manischen Völker erschöpft. Wie dem mittelalterlichen Ideal mit der Ext^
seine innerste Lebenskraft schwand, so mußte der gothischen Kunst, die ja
architektonische Ausdruck jenes Ideals gewesen, mit dem Ideal der nähret
Boden verloren gehen. Die gothische Architektur baut sich, dem mittelalter¬
lichen Gedanken parallel, in strengster rücksichtslosester Consequenz auf. ^
Consequenz wurzelt eben im Gedanken. Wankte aber der Grund, auf de>"
das stolze Gebäude sich erhob, so mußte der ganze Bau unabänderlich in se^
zusammenbrechen, denn auf diesem Grund und darauf in einseitiger Corise'
quenz war er eben errichtet. Je strenger aber die Consequenz des gothisch
Systems gewesen war, um so unwiderstehlicher mußte sich die Auflösung ^
ihm vollziehen. Der italienischen Kunst aber erwuchs aus jener Auflösn'^


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[0270] fremdartigen nordischen Geschmacksformen sich zu assimiliren, ebenso wenig aber sie als principwidrig zurückzuweisen, so vollzog Italien diese formale Läuterung im fünfzehnten Jahrhundert in der Renaissance. Die Renaissance bezeichneten wir oben als den architektonischen Ausdruck der im fünfzehnten Jahrhundert begonnenen Sinneswandelung. Das Mittelalter stützte sich eins den Individualismus, der Individualismus aber war ein unfreier, durch die Autorität gebundener. Die Negation der Natur und ihrer Rechte, die Allein¬ herrschaft des Geistes war das mit sclbstvernichtendcr Begeisterung erstrebte Ziel der mittelalterlichen Welt. Kehrte sich aber ein solches Streben gegen die natürliche Basis der menschlichen Existenz und sonnte es darum nur in der Extase seinen Haltpunkt finden, so mußte es naturnothwendig mit dem Verfliegen der Extase seinen Haltpunkt verlieren. Der Geist erkannte sich in seiner Einsei' tigkeit. erkannte die Unmöglichkeit, ans sich heraus durch Negation alles außer ihn' Gegebenen zur Befriedigung zu gelangen. Diese Erkenntniß war eine unerläß- liche. Der Geist mußte sich seiner Schranken bewußt werden, um in der Natur ein ihm gleichberechtigtes Moment anzuerkennen, das nicht durch Ne¬ gation zu überwinden, nur durch Annahme zu versöhnen sei. Diese Versöh¬ nung von Geist und Natur ist aber das Princip des modernen Ideals. Mittelalter war die Individualität eine unfreie, die neue Zeit ist von dein Streben nach individueller Freiheit erfüllt. Deutschland ward zum Banner¬ träger dieses Freiheitsstrebens auf religiösem Gebiet (in der Reformation), Italien auf dem Gebiet der Kunst. Das moderne Ideal ist die Versöhnung von Geist und Natur; der arcl)'' tektonische Ausdruck dieses Ideals aber konnte nur in der Verschmelzung de6 mittelalterlichen und antiken Bauprincips gefunden werden. Diese Verschwel zung hatte Italien im Mittelalter begonnen, im fünfzehnten Jahrhundert rü't gesteigertem Bewußtsein sortgesetzt. Die Frucht dieser Bestrebungen ist d>t Renaissance. — Im gothischen Stil, in welchem der mittelalterliche Gedanke seine großartigste Verkörperung gefunden, hatte sich die Schöpferkraft der ge^ manischen Völker erschöpft. Wie dem mittelalterlichen Ideal mit der Ext^ seine innerste Lebenskraft schwand, so mußte der gothischen Kunst, die ja architektonische Ausdruck jenes Ideals gewesen, mit dem Ideal der nähret Boden verloren gehen. Die gothische Architektur baut sich, dem mittelalter¬ lichen Gedanken parallel, in strengster rücksichtslosester Consequenz auf. ^ Consequenz wurzelt eben im Gedanken. Wankte aber der Grund, auf de>" das stolze Gebäude sich erhob, so mußte der ganze Bau unabänderlich in se^ zusammenbrechen, denn auf diesem Grund und darauf in einseitiger Corise' quenz war er eben errichtet. Je strenger aber die Consequenz des gothisch Systems gewesen war, um so unwiderstehlicher mußte sich die Auflösung ^ ihm vollziehen. Der italienischen Kunst aber erwuchs aus jener Auflösn'^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/270>, abgerufen am 24.07.2024.