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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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ist gegen Schillers Urtheil nichts einzuwenden; Karl verdient wirklich in seinen
schwersten Verirnmgen, selbst als Räuber und Mörder, unsere Theilnahme
mehr als sein Bruder, der kalte heuchlerische Schurke. Inzwischen liegt solcher
individuellen Darstellung gewöhnlich die heimliche Neigung zu Grunde, den
Fall zu verallgemeinern. Karl und Franz sollen Typen sein, der eine für die
aufbrausende Jugend, welche die Eingebungen ihres Herzens über das geschrie¬
bene Recht stellt, der andere für die verdorbene Civilisation, die sich mit dem
Schild eben dieses Gesetzes deckt. Was bei Schiller in jener Sturm- und
Drangperiode wie ein lyrischer Stoßseufzer aussah, wird in den Jahren, die
unmittelbar der Julirevolution vorausgingen, zu einem ganz ernsthaft gemein¬
ten Kampf gegen das bürgerliche Recht. Durch die Socialisten war die Leiden¬
schaft, auch wo sie über die Grenze des Rechts hinausging, ja bis zu einer
gewissen Grenze das Laster selbst rehabilitirt, und V. Hugo, damals noch
im vollen Feuer der Jugend, schrieb 1829 den letzten Tag eines Verur-
theilten, angeblich nur gegen die Todesstrafe, in der That aber gegen das
Recht der Gesellschaft überhaupt, den Verbrecher zu richten. Auf dasselbe geht
Bulwer im Paul Clifford aus. Noch härter als Schiller stellt er den Straßen¬
räuber dem Mann der guten Gesellschaft, den Verbrecher dem Richter gegen¬
über: jener ist ein liebenswürdiger Mann, der, als er der Todesstrafe ent¬
geht, in Amerika ein sehr nützliches Glied der Gesellschaft wird; dieser ist ein
Schurke. Bei Schiller sind es zwei Brüder, hier ist es Vater und Sohn.
Aber Bulwer ist weit raffinirter als der deutsche Dichter. Bei ihm sollen wir
nicht blos mit dem Verbrecher Theilnahme empfinden, sondern auch sür den
Schurken, seinen Vater und Richter. Dieses Charakterproblcm ist sehr inter¬
essant angelegt, aber die Ausführung ist mißlungen, weil der Dichter den
springenden Punkt des Charakters nicht entdeckt hat. Es wird uns frag/
mentarisch eine Reihe bedeutender Züge mitgetheilt, die aber einander wider¬
sprechen und sür die wir vergebens nach einem Lcitton suchen. Wenn sclM
dieser Charakter keinen Glauben in uns erweckt, so ist die Räuberbande voll¬
ständig eine phantastische Spielerei; hier ist nicht einmal der Schein der Wahr'
heit gegeben. Uebrigens enthält der Roman einzelne vortrefflich ausgeführte
Nachtstücke, wie wir sie in Bulwers Werken nicht leicht wieder antreffen, ^
namentlich der Anfang.

Auf die Spitze getrieben ist die Verbrecherromantik im Eugen AraM
1832. Künstlerisch betrachtet ist es Bulwers gelungenstes Werk, und verdient
von Seiten der Composition noch heute das Studium jüngerer Dichter. Der
Inhalt aber ist ebenso abscheulich als unwahr. Bekanntlich hat Bulwer einen
wirklichen Criminalsall zu Grunde gelegt, der seine Phantasie so beschäftigt
daß er ihn früher schon einmal dramatisch zu behandeln versuchte. Aber in¬
dem er diesen empirischen Fall idealisirte, hat er ihm die Wahrheit genommen


ist gegen Schillers Urtheil nichts einzuwenden; Karl verdient wirklich in seinen
schwersten Verirnmgen, selbst als Räuber und Mörder, unsere Theilnahme
mehr als sein Bruder, der kalte heuchlerische Schurke. Inzwischen liegt solcher
individuellen Darstellung gewöhnlich die heimliche Neigung zu Grunde, den
Fall zu verallgemeinern. Karl und Franz sollen Typen sein, der eine für die
aufbrausende Jugend, welche die Eingebungen ihres Herzens über das geschrie¬
bene Recht stellt, der andere für die verdorbene Civilisation, die sich mit dem
Schild eben dieses Gesetzes deckt. Was bei Schiller in jener Sturm- und
Drangperiode wie ein lyrischer Stoßseufzer aussah, wird in den Jahren, die
unmittelbar der Julirevolution vorausgingen, zu einem ganz ernsthaft gemein¬
ten Kampf gegen das bürgerliche Recht. Durch die Socialisten war die Leiden¬
schaft, auch wo sie über die Grenze des Rechts hinausging, ja bis zu einer
gewissen Grenze das Laster selbst rehabilitirt, und V. Hugo, damals noch
im vollen Feuer der Jugend, schrieb 1829 den letzten Tag eines Verur-
theilten, angeblich nur gegen die Todesstrafe, in der That aber gegen das
Recht der Gesellschaft überhaupt, den Verbrecher zu richten. Auf dasselbe geht
Bulwer im Paul Clifford aus. Noch härter als Schiller stellt er den Straßen¬
räuber dem Mann der guten Gesellschaft, den Verbrecher dem Richter gegen¬
über: jener ist ein liebenswürdiger Mann, der, als er der Todesstrafe ent¬
geht, in Amerika ein sehr nützliches Glied der Gesellschaft wird; dieser ist ein
Schurke. Bei Schiller sind es zwei Brüder, hier ist es Vater und Sohn.
Aber Bulwer ist weit raffinirter als der deutsche Dichter. Bei ihm sollen wir
nicht blos mit dem Verbrecher Theilnahme empfinden, sondern auch sür den
Schurken, seinen Vater und Richter. Dieses Charakterproblcm ist sehr inter¬
essant angelegt, aber die Ausführung ist mißlungen, weil der Dichter den
springenden Punkt des Charakters nicht entdeckt hat. Es wird uns frag/
mentarisch eine Reihe bedeutender Züge mitgetheilt, die aber einander wider¬
sprechen und sür die wir vergebens nach einem Lcitton suchen. Wenn sclM
dieser Charakter keinen Glauben in uns erweckt, so ist die Räuberbande voll¬
ständig eine phantastische Spielerei; hier ist nicht einmal der Schein der Wahr'
heit gegeben. Uebrigens enthält der Roman einzelne vortrefflich ausgeführte
Nachtstücke, wie wir sie in Bulwers Werken nicht leicht wieder antreffen, ^
namentlich der Anfang.

Auf die Spitze getrieben ist die Verbrecherromantik im Eugen AraM
1832. Künstlerisch betrachtet ist es Bulwers gelungenstes Werk, und verdient
von Seiten der Composition noch heute das Studium jüngerer Dichter. Der
Inhalt aber ist ebenso abscheulich als unwahr. Bekanntlich hat Bulwer einen
wirklichen Criminalsall zu Grunde gelegt, der seine Phantasie so beschäftigt
daß er ihn früher schon einmal dramatisch zu behandeln versuchte. Aber in¬
dem er diesen empirischen Fall idealisirte, hat er ihm die Wahrheit genommen


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[0216] ist gegen Schillers Urtheil nichts einzuwenden; Karl verdient wirklich in seinen schwersten Verirnmgen, selbst als Räuber und Mörder, unsere Theilnahme mehr als sein Bruder, der kalte heuchlerische Schurke. Inzwischen liegt solcher individuellen Darstellung gewöhnlich die heimliche Neigung zu Grunde, den Fall zu verallgemeinern. Karl und Franz sollen Typen sein, der eine für die aufbrausende Jugend, welche die Eingebungen ihres Herzens über das geschrie¬ bene Recht stellt, der andere für die verdorbene Civilisation, die sich mit dem Schild eben dieses Gesetzes deckt. Was bei Schiller in jener Sturm- und Drangperiode wie ein lyrischer Stoßseufzer aussah, wird in den Jahren, die unmittelbar der Julirevolution vorausgingen, zu einem ganz ernsthaft gemein¬ ten Kampf gegen das bürgerliche Recht. Durch die Socialisten war die Leiden¬ schaft, auch wo sie über die Grenze des Rechts hinausging, ja bis zu einer gewissen Grenze das Laster selbst rehabilitirt, und V. Hugo, damals noch im vollen Feuer der Jugend, schrieb 1829 den letzten Tag eines Verur- theilten, angeblich nur gegen die Todesstrafe, in der That aber gegen das Recht der Gesellschaft überhaupt, den Verbrecher zu richten. Auf dasselbe geht Bulwer im Paul Clifford aus. Noch härter als Schiller stellt er den Straßen¬ räuber dem Mann der guten Gesellschaft, den Verbrecher dem Richter gegen¬ über: jener ist ein liebenswürdiger Mann, der, als er der Todesstrafe ent¬ geht, in Amerika ein sehr nützliches Glied der Gesellschaft wird; dieser ist ein Schurke. Bei Schiller sind es zwei Brüder, hier ist es Vater und Sohn. Aber Bulwer ist weit raffinirter als der deutsche Dichter. Bei ihm sollen wir nicht blos mit dem Verbrecher Theilnahme empfinden, sondern auch sür den Schurken, seinen Vater und Richter. Dieses Charakterproblcm ist sehr inter¬ essant angelegt, aber die Ausführung ist mißlungen, weil der Dichter den springenden Punkt des Charakters nicht entdeckt hat. Es wird uns frag/ mentarisch eine Reihe bedeutender Züge mitgetheilt, die aber einander wider¬ sprechen und sür die wir vergebens nach einem Lcitton suchen. Wenn sclM dieser Charakter keinen Glauben in uns erweckt, so ist die Räuberbande voll¬ ständig eine phantastische Spielerei; hier ist nicht einmal der Schein der Wahr' heit gegeben. Uebrigens enthält der Roman einzelne vortrefflich ausgeführte Nachtstücke, wie wir sie in Bulwers Werken nicht leicht wieder antreffen, ^ namentlich der Anfang. Auf die Spitze getrieben ist die Verbrecherromantik im Eugen AraM 1832. Künstlerisch betrachtet ist es Bulwers gelungenstes Werk, und verdient von Seiten der Composition noch heute das Studium jüngerer Dichter. Der Inhalt aber ist ebenso abscheulich als unwahr. Bekanntlich hat Bulwer einen wirklichen Criminalsall zu Grunde gelegt, der seine Phantasie so beschäftigt daß er ihn früher schon einmal dramatisch zu behandeln versuchte. Aber in¬ dem er diesen empirischen Fall idealisirte, hat er ihm die Wahrheit genommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/216>, abgerufen am 24.07.2024.