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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Frankreich hat namentlich Balzac, in Deutschland die Gräfin Huhn-Hahn
für diesen Cultus des aristokratischen Scheins Propaganda gemacht.

Auf Pelham folgten 1829 zwei Romane, die zwar auch Beifall fanden,
aber doch ihren Vorgänger lange nicht einholten: der Enterbte und De-
vereux. Im ersten ist eigentlich nur ein Nebcncharat'ter von Interesse,
Talbot, der als ein vortrefflicher Mann dargestellt wird, der aber doch vor
Eitelkeit fast den Verstand verloren hat. In diesen und ähnlichen Charakter-
pwblemen zeigt sich recht deutlich, wie einseitig Bulwers gemischte Charaktere
gedacht sind. Den springenden Punkt des Lebens hat er freilich nicht gefun¬
dn und insofern bleibt etwas Räthselhaftes, aber die Form der Seltsamkeit,
des Widerspruchs ist so mit dem Verstände ausgeklügelt, daß das Ganze aus¬
übt wie eine Reihe von Variationen über ein gegebenes Thema. Im De-
^reux begibt sich Bulwer auf das historische Gebiet, er schildert die Zeit der
^bnigin Anna und bemüht sich, von den Berühmtheiten jener Periode ein
vollständiges Gemälde zu entwerfen. Hier ist nun freilich viel mehr historische
^calfarbe als bei W. Scott, der immer nur Fresco malt und sich damit
^gnügt, die Celebritäten, die nicht wirklich zur Handlung gehören, flüchtig
6u erwähnen. In neuerer Zeit ist das Raffinement viel weiter gegangen,
^'gleicht man z. B. Thackerays Henry Csmond mit Devereux, so merkt
wan ebenso wenig, daß man sich in derselben Periode befindet, als wenn
'""n Kingsleys Wcstward Ho neben Keiiilworth stellt. Die jüngern Roman-
Treiber sind viel genauer im Detail, sie versinnlichen viel schärfer den Ab¬
stand der Zeiten, aber, wie uns scheint, uicht zum Vortheil des Kunstwerks.
^Ul Vulwerschcn Roman ist der Held im Ganzen ein in eine frühere Periode
verlegter Pelham; charakteristisch für den Dichter ist der jüngste des Geschlechts,
^ dessen anscheinend schöner Seele sich ein Abgrund von Schlechtigkeit ver-
^'ete, der doch wieder nicht ganz schlecht sein soll.

, Das folgende Jahr 1830 brachte den Paul Clisford. Hier sind wir
'u jener Verbrccherromantik, die unter den spätern Novellen namentlich der
Engländer so viel Unheil angerichtet hat. Das Interesse der Romanschreiber
Mr djx Spilwubcn geht aus verschiedenen Gründen hervor. Zum Theil ist
^ der Reiz des Fremdartigen, das phantastische Colorit, dasselbe Motiv,
elches Scott unter die Zigeuner und Hochländer, Cooper unter die Indianer
die modernste Literatur in die Dorfgeschichten führt; ferner der angenehme
Mner vor gräßlichen Dingen, die'Spannung und das Geheimniß, das
^ut cjntt Criminalgeschichte verbunden ist. Aber es kommt noch ein anderes,
^'ger unbefangenes Motiv dazu: der geheime Krieg gegen den Organismus
^ Gesellschaft, der zuerst den Pharisäern d. h. den scheinheiligen gilt, sich
""n aber auf den innern Kern des sittlichen Lebens erstreckt. Das ist ja
im Grunde das Motiv bei Schillers Räubern. Individuell aufgefaßt


Frankreich hat namentlich Balzac, in Deutschland die Gräfin Huhn-Hahn
für diesen Cultus des aristokratischen Scheins Propaganda gemacht.

Auf Pelham folgten 1829 zwei Romane, die zwar auch Beifall fanden,
aber doch ihren Vorgänger lange nicht einholten: der Enterbte und De-
vereux. Im ersten ist eigentlich nur ein Nebcncharat'ter von Interesse,
Talbot, der als ein vortrefflicher Mann dargestellt wird, der aber doch vor
Eitelkeit fast den Verstand verloren hat. In diesen und ähnlichen Charakter-
pwblemen zeigt sich recht deutlich, wie einseitig Bulwers gemischte Charaktere
gedacht sind. Den springenden Punkt des Lebens hat er freilich nicht gefun¬
dn und insofern bleibt etwas Räthselhaftes, aber die Form der Seltsamkeit,
des Widerspruchs ist so mit dem Verstände ausgeklügelt, daß das Ganze aus¬
übt wie eine Reihe von Variationen über ein gegebenes Thema. Im De-
^reux begibt sich Bulwer auf das historische Gebiet, er schildert die Zeit der
^bnigin Anna und bemüht sich, von den Berühmtheiten jener Periode ein
vollständiges Gemälde zu entwerfen. Hier ist nun freilich viel mehr historische
^calfarbe als bei W. Scott, der immer nur Fresco malt und sich damit
^gnügt, die Celebritäten, die nicht wirklich zur Handlung gehören, flüchtig
6u erwähnen. In neuerer Zeit ist das Raffinement viel weiter gegangen,
^'gleicht man z. B. Thackerays Henry Csmond mit Devereux, so merkt
wan ebenso wenig, daß man sich in derselben Periode befindet, als wenn
'""n Kingsleys Wcstward Ho neben Keiiilworth stellt. Die jüngern Roman-
Treiber sind viel genauer im Detail, sie versinnlichen viel schärfer den Ab¬
stand der Zeiten, aber, wie uns scheint, uicht zum Vortheil des Kunstwerks.
^Ul Vulwerschcn Roman ist der Held im Ganzen ein in eine frühere Periode
verlegter Pelham; charakteristisch für den Dichter ist der jüngste des Geschlechts,
^ dessen anscheinend schöner Seele sich ein Abgrund von Schlechtigkeit ver-
^'ete, der doch wieder nicht ganz schlecht sein soll.

, Das folgende Jahr 1830 brachte den Paul Clisford. Hier sind wir
'u jener Verbrccherromantik, die unter den spätern Novellen namentlich der
Engländer so viel Unheil angerichtet hat. Das Interesse der Romanschreiber
Mr djx Spilwubcn geht aus verschiedenen Gründen hervor. Zum Theil ist
^ der Reiz des Fremdartigen, das phantastische Colorit, dasselbe Motiv,
elches Scott unter die Zigeuner und Hochländer, Cooper unter die Indianer
die modernste Literatur in die Dorfgeschichten führt; ferner der angenehme
Mner vor gräßlichen Dingen, die'Spannung und das Geheimniß, das
^ut cjntt Criminalgeschichte verbunden ist. Aber es kommt noch ein anderes,
^'ger unbefangenes Motiv dazu: der geheime Krieg gegen den Organismus
^ Gesellschaft, der zuerst den Pharisäern d. h. den scheinheiligen gilt, sich
""n aber auf den innern Kern des sittlichen Lebens erstreckt. Das ist ja
im Grunde das Motiv bei Schillers Räubern. Individuell aufgefaßt


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[0215] Frankreich hat namentlich Balzac, in Deutschland die Gräfin Huhn-Hahn für diesen Cultus des aristokratischen Scheins Propaganda gemacht. Auf Pelham folgten 1829 zwei Romane, die zwar auch Beifall fanden, aber doch ihren Vorgänger lange nicht einholten: der Enterbte und De- vereux. Im ersten ist eigentlich nur ein Nebcncharat'ter von Interesse, Talbot, der als ein vortrefflicher Mann dargestellt wird, der aber doch vor Eitelkeit fast den Verstand verloren hat. In diesen und ähnlichen Charakter- pwblemen zeigt sich recht deutlich, wie einseitig Bulwers gemischte Charaktere gedacht sind. Den springenden Punkt des Lebens hat er freilich nicht gefun¬ dn und insofern bleibt etwas Räthselhaftes, aber die Form der Seltsamkeit, des Widerspruchs ist so mit dem Verstände ausgeklügelt, daß das Ganze aus¬ übt wie eine Reihe von Variationen über ein gegebenes Thema. Im De- ^reux begibt sich Bulwer auf das historische Gebiet, er schildert die Zeit der ^bnigin Anna und bemüht sich, von den Berühmtheiten jener Periode ein vollständiges Gemälde zu entwerfen. Hier ist nun freilich viel mehr historische ^calfarbe als bei W. Scott, der immer nur Fresco malt und sich damit ^gnügt, die Celebritäten, die nicht wirklich zur Handlung gehören, flüchtig 6u erwähnen. In neuerer Zeit ist das Raffinement viel weiter gegangen, ^'gleicht man z. B. Thackerays Henry Csmond mit Devereux, so merkt wan ebenso wenig, daß man sich in derselben Periode befindet, als wenn '""n Kingsleys Wcstward Ho neben Keiiilworth stellt. Die jüngern Roman- Treiber sind viel genauer im Detail, sie versinnlichen viel schärfer den Ab¬ stand der Zeiten, aber, wie uns scheint, uicht zum Vortheil des Kunstwerks. ^Ul Vulwerschcn Roman ist der Held im Ganzen ein in eine frühere Periode verlegter Pelham; charakteristisch für den Dichter ist der jüngste des Geschlechts, ^ dessen anscheinend schöner Seele sich ein Abgrund von Schlechtigkeit ver- ^'ete, der doch wieder nicht ganz schlecht sein soll. , Das folgende Jahr 1830 brachte den Paul Clisford. Hier sind wir 'u jener Verbrccherromantik, die unter den spätern Novellen namentlich der Engländer so viel Unheil angerichtet hat. Das Interesse der Romanschreiber Mr djx Spilwubcn geht aus verschiedenen Gründen hervor. Zum Theil ist ^ der Reiz des Fremdartigen, das phantastische Colorit, dasselbe Motiv, elches Scott unter die Zigeuner und Hochländer, Cooper unter die Indianer die modernste Literatur in die Dorfgeschichten führt; ferner der angenehme Mner vor gräßlichen Dingen, die'Spannung und das Geheimniß, das ^ut cjntt Criminalgeschichte verbunden ist. Aber es kommt noch ein anderes, ^'ger unbefangenes Motiv dazu: der geheime Krieg gegen den Organismus ^ Gesellschaft, der zuerst den Pharisäern d. h. den scheinheiligen gilt, sich ""n aber auf den innern Kern des sittlichen Lebens erstreckt. Das ist ja im Grunde das Motiv bei Schillers Räubern. Individuell aufgefaßt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/215>, abgerufen am 24.07.2024.