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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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gegenwärtige Verhältniß der gebildeten Laien zu den freien Gemeinden mit
dem Verhältniß der Humanisten zu den Reformatoren verglichen, und die
Theilnahmlosigkeit der erstem aus Mangel an Muth oder aus Unklarheit über
den Gang der Geschichte hergeleitet.

Es ist ein trivialer aber deshalb nicht unrichtiger Satz, daß bei allge¬
meinen Neformentwürfen der Ausgang das Urtheil enthält. Luthers subjec-
tive Ueberzeugung, daß die Kirche einer geistigen Wiedergeburt bedürftig und
fähig sei, wurde durch die gemeinsame Ueberzeugung der Culturvölker Europas
gestützt: wie es heute damit beschaffen ist, lehrt der Erfolg. Wenn die Ge¬
bildeten mit den freigemeindlichen Predigern darin übereinstimmen mögen,
daß z. B. die Dreieinigkeit symbolisch und nicht real aufzufassen sei, so stim¬
men sie doch darin nicht mit ihnen überein, daß diese Auffassung einen pro-
ductiven kirchlichen Lebenskeim enthalte. Hauptsächlich aber liegt die Abwei¬
chung darin, daß sie die Pflichten des Einzelnen dem kirchlichen Bekenntniß
gegenüber verschieden auffassen. Die freien Gemeinden gehn von der Ansicht
aus, jeder Einzelne habe die Verpflichtung, sich über sein Verhältniß zu den
symbolischen Büchern eine klare Ansicht zu bilden und diese Ansicht in einem
Bekenntniß niederzulegen; wir dagegen leugnen diese Verpflichtung, und ge-
stehn offen, daß uns manche dogmatische Streitfragen unserer Tage ebenso
nahe angehn, als die byzantinischen Streitfragen über Homusios und Ho-
moiusios. Wenn Einzelne diese Fassung der Frage dadurch umgehn, daß sie
sich auf den Standpunkt stellen, den Kant in seiner "Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft" einnimmt, daß sie ihr sittliches Leben ledig¬
lich aus das Princip des Gewissens gründen, so erklären wir, daß wir damit
vollkommen übereinstimmen, daß wir aber zur Durchführung dieses Princips
der freien Gemeinde nicht bedürfen, daß wir damit auch in der alten evan¬
gelischen Kirche ausreichen. Da der Conflict tiefer liegt, so sei es uns ver¬
stattet, ihn bis zu seinem Ursprung zu verfolgen.

Was Luther hauptsächlich zu seiner Reformation trieb, war die absolute
Trennung des Geistlichen von dem Weltlichen, des idealen Lebens von dem
realen, der Priesterschaft vom Laienthum. Diese Trennung war das Princip
des Mittelalters überhaupt. Zwar waren die Germanen zum Christenthum
bekehrt, aber die eigentlich christliche Gesellschaft, welche die Anforderungen
des Christenthums traditionell in sich forterbte und wenigstens der Form nach
befriedigte, die heilige Gesellschaft blieb von dem gemeinen Hausen der Gläu¬
bigen streng geschieden. Die durch ununterbrochene Folge der Priesterweihe
mit dem Ursprung des Christenthums verknüpfte Geistlichkeit bildete eine Welt
für sich, sie war die eigentliche Kirche und rekrutirte sich nur in den Klöstern,
die, ohne im Anfang zum Klerus zu gehören, sich doch zum vorschriftsmäßig
heiligen Leben verpflichteten, unter andern zur Ehelosigkeit. Es liegt in der


gegenwärtige Verhältniß der gebildeten Laien zu den freien Gemeinden mit
dem Verhältniß der Humanisten zu den Reformatoren verglichen, und die
Theilnahmlosigkeit der erstem aus Mangel an Muth oder aus Unklarheit über
den Gang der Geschichte hergeleitet.

Es ist ein trivialer aber deshalb nicht unrichtiger Satz, daß bei allge¬
meinen Neformentwürfen der Ausgang das Urtheil enthält. Luthers subjec-
tive Ueberzeugung, daß die Kirche einer geistigen Wiedergeburt bedürftig und
fähig sei, wurde durch die gemeinsame Ueberzeugung der Culturvölker Europas
gestützt: wie es heute damit beschaffen ist, lehrt der Erfolg. Wenn die Ge¬
bildeten mit den freigemeindlichen Predigern darin übereinstimmen mögen,
daß z. B. die Dreieinigkeit symbolisch und nicht real aufzufassen sei, so stim¬
men sie doch darin nicht mit ihnen überein, daß diese Auffassung einen pro-
ductiven kirchlichen Lebenskeim enthalte. Hauptsächlich aber liegt die Abwei¬
chung darin, daß sie die Pflichten des Einzelnen dem kirchlichen Bekenntniß
gegenüber verschieden auffassen. Die freien Gemeinden gehn von der Ansicht
aus, jeder Einzelne habe die Verpflichtung, sich über sein Verhältniß zu den
symbolischen Büchern eine klare Ansicht zu bilden und diese Ansicht in einem
Bekenntniß niederzulegen; wir dagegen leugnen diese Verpflichtung, und ge-
stehn offen, daß uns manche dogmatische Streitfragen unserer Tage ebenso
nahe angehn, als die byzantinischen Streitfragen über Homusios und Ho-
moiusios. Wenn Einzelne diese Fassung der Frage dadurch umgehn, daß sie
sich auf den Standpunkt stellen, den Kant in seiner „Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft" einnimmt, daß sie ihr sittliches Leben ledig¬
lich aus das Princip des Gewissens gründen, so erklären wir, daß wir damit
vollkommen übereinstimmen, daß wir aber zur Durchführung dieses Princips
der freien Gemeinde nicht bedürfen, daß wir damit auch in der alten evan¬
gelischen Kirche ausreichen. Da der Conflict tiefer liegt, so sei es uns ver¬
stattet, ihn bis zu seinem Ursprung zu verfolgen.

Was Luther hauptsächlich zu seiner Reformation trieb, war die absolute
Trennung des Geistlichen von dem Weltlichen, des idealen Lebens von dem
realen, der Priesterschaft vom Laienthum. Diese Trennung war das Princip
des Mittelalters überhaupt. Zwar waren die Germanen zum Christenthum
bekehrt, aber die eigentlich christliche Gesellschaft, welche die Anforderungen
des Christenthums traditionell in sich forterbte und wenigstens der Form nach
befriedigte, die heilige Gesellschaft blieb von dem gemeinen Hausen der Gläu¬
bigen streng geschieden. Die durch ununterbrochene Folge der Priesterweihe
mit dem Ursprung des Christenthums verknüpfte Geistlichkeit bildete eine Welt
für sich, sie war die eigentliche Kirche und rekrutirte sich nur in den Klöstern,
die, ohne im Anfang zum Klerus zu gehören, sich doch zum vorschriftsmäßig
heiligen Leben verpflichteten, unter andern zur Ehelosigkeit. Es liegt in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/20>, abgerufen am 24.07.2024.