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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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wachen, als er sie verhindert, Böses zu thun, aber nicht weiter; um ihre
Dogmatik hat er sich nicht zu kümmern, ihre theologische Konsequenz acht
zu vertreten, weil er als Staat von solchen Dingen nichts versteht. Faßer
wu- so den Begriff des Staats., so ist sein Verhältniß zu den freien Ge¬
meinden ganz einfach: er läßt sie gewähren, so lange sie nicht in das Gebret
der Cri.ninaljustiz satten, ohne durch diese Duldung irgendwie die Verant-
wortung für ihreDoctrinen solidarisch zu übernehmen. - Die einzige schwie-
nge Frage, inwieweit man den Geistlichen geduldeter Sekten dieselben Func-
tionen des bürgerlichen Lebens (z. B. dre Trauung) übertragen dürfe, erledigt
sich einfach dadurch, daß die bürgerliche rechtliche Seite dieser Functionen von
der kirchlichen getrennt, und die erste den Gemeindebeamten übertragen wird.
-- Die Einmischung des Staats in diejenigen Gebiete, die dem Denken und
dem Gefühl angehören, sührt immer zu Tollheiten; seine Sphäre ist die der
That, und hier kann er um so energischer auftreten. je reiner sein Gewissen
'se d. h. je weniger er die Freiheit des Denkens und Empfindens beein-
trächtigt hat.

So weit gehn wir mit den Anforderungen der freien Gemeinden Hand in
Hand; daß wir im Uebrigen über die Entwicklung des christlichen Lebens sehr
abweichende Begriffe von ihnen haben, ist schon mehrfach, zuletzt im ersten
Quartal des Jahres 1S57. Serie 65 auseinandergesetzt. Wir haben seit der
Zeit die Zeitschrift, in welcher der geistvollste Vertreter des freigemeindUchcn
Wesens für seine Ansichten Propaganda macht, die Königsberger Sonntags¬
post, aufmerksam verfolgt, sie hat uns aber nicht überzeugen können.'

Ursprünglich warendie freien Gemeinden ein Nothbehelf. Das Kirchen-
Regiment drängte die rationalistischen Geistlichen, die früher ihre Ansicht
innerhalb des kirchlichen Lebens hatten bethätigen können, aus der Kirche
hinaus; diese sammelten ihre Anhänger, die entweder von den gleichen An¬
sichten ausgingen, oder die durch das Uebergewicht einer bedeutenden Persön¬
lichkeit bestimmt waren, zu einer Neligionsgesellschaft, die zunächst einen ganz
individuellen Eharnktcr hatte. Da nun aber nichts so nahe bringt, als ein
gemeinsamer Druck, so bemühten sich die verschiedenen freien Gemeinden, mit¬
einander in Rappolt zu treten, und sich nicht blos über eine gemeinsame Hal¬
tung dem Staat gegenüber, sondern auch über dogmatische Grundsätze zu ver¬
ständigen. Der Hintergedanke dabei war. daß durch dieses Verfahren mit der
Zeit eine Kirchenreformation in der Art des 16. Jahrhunderts zu Stande ge¬
bracht werden könne. In der Ueberzeugung, daß die Mehrzahl der Gebil¬
deten im Stillen ihren Ansichten beipflichten, daß auch sie in der christlichen
Dogmatik mehr eine symbolische als eine reale Wahrheit finden, können die
Sprecher der freien Gemeinden ihr Befremden nicht oft genug aussprechen, daß
diese Gebildeten nicht offen zu ihnen übertreten. Nicht selten wird dann das


Grenzboten I. 1SS9.

wachen, als er sie verhindert, Böses zu thun, aber nicht weiter; um ihre
Dogmatik hat er sich nicht zu kümmern, ihre theologische Konsequenz acht
zu vertreten, weil er als Staat von solchen Dingen nichts versteht. Faßer
wu- so den Begriff des Staats., so ist sein Verhältniß zu den freien Ge¬
meinden ganz einfach: er läßt sie gewähren, so lange sie nicht in das Gebret
der Cri.ninaljustiz satten, ohne durch diese Duldung irgendwie die Verant-
wortung für ihreDoctrinen solidarisch zu übernehmen. - Die einzige schwie-
nge Frage, inwieweit man den Geistlichen geduldeter Sekten dieselben Func-
tionen des bürgerlichen Lebens (z. B. dre Trauung) übertragen dürfe, erledigt
sich einfach dadurch, daß die bürgerliche rechtliche Seite dieser Functionen von
der kirchlichen getrennt, und die erste den Gemeindebeamten übertragen wird.
— Die Einmischung des Staats in diejenigen Gebiete, die dem Denken und
dem Gefühl angehören, sührt immer zu Tollheiten; seine Sphäre ist die der
That, und hier kann er um so energischer auftreten. je reiner sein Gewissen
'se d. h. je weniger er die Freiheit des Denkens und Empfindens beein-
trächtigt hat.

So weit gehn wir mit den Anforderungen der freien Gemeinden Hand in
Hand; daß wir im Uebrigen über die Entwicklung des christlichen Lebens sehr
abweichende Begriffe von ihnen haben, ist schon mehrfach, zuletzt im ersten
Quartal des Jahres 1S57. Serie 65 auseinandergesetzt. Wir haben seit der
Zeit die Zeitschrift, in welcher der geistvollste Vertreter des freigemeindUchcn
Wesens für seine Ansichten Propaganda macht, die Königsberger Sonntags¬
post, aufmerksam verfolgt, sie hat uns aber nicht überzeugen können.'

Ursprünglich warendie freien Gemeinden ein Nothbehelf. Das Kirchen-
Regiment drängte die rationalistischen Geistlichen, die früher ihre Ansicht
innerhalb des kirchlichen Lebens hatten bethätigen können, aus der Kirche
hinaus; diese sammelten ihre Anhänger, die entweder von den gleichen An¬
sichten ausgingen, oder die durch das Uebergewicht einer bedeutenden Persön¬
lichkeit bestimmt waren, zu einer Neligionsgesellschaft, die zunächst einen ganz
individuellen Eharnktcr hatte. Da nun aber nichts so nahe bringt, als ein
gemeinsamer Druck, so bemühten sich die verschiedenen freien Gemeinden, mit¬
einander in Rappolt zu treten, und sich nicht blos über eine gemeinsame Hal¬
tung dem Staat gegenüber, sondern auch über dogmatische Grundsätze zu ver¬
ständigen. Der Hintergedanke dabei war. daß durch dieses Verfahren mit der
Zeit eine Kirchenreformation in der Art des 16. Jahrhunderts zu Stande ge¬
bracht werden könne. In der Ueberzeugung, daß die Mehrzahl der Gebil¬
deten im Stillen ihren Ansichten beipflichten, daß auch sie in der christlichen
Dogmatik mehr eine symbolische als eine reale Wahrheit finden, können die
Sprecher der freien Gemeinden ihr Befremden nicht oft genug aussprechen, daß
diese Gebildeten nicht offen zu ihnen übertreten. Nicht selten wird dann das


Grenzboten I. 1SS9.
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[0019] wachen, als er sie verhindert, Böses zu thun, aber nicht weiter; um ihre Dogmatik hat er sich nicht zu kümmern, ihre theologische Konsequenz acht zu vertreten, weil er als Staat von solchen Dingen nichts versteht. Faßer wu- so den Begriff des Staats., so ist sein Verhältniß zu den freien Ge¬ meinden ganz einfach: er läßt sie gewähren, so lange sie nicht in das Gebret der Cri.ninaljustiz satten, ohne durch diese Duldung irgendwie die Verant- wortung für ihreDoctrinen solidarisch zu übernehmen. - Die einzige schwie- nge Frage, inwieweit man den Geistlichen geduldeter Sekten dieselben Func- tionen des bürgerlichen Lebens (z. B. dre Trauung) übertragen dürfe, erledigt sich einfach dadurch, daß die bürgerliche rechtliche Seite dieser Functionen von der kirchlichen getrennt, und die erste den Gemeindebeamten übertragen wird. — Die Einmischung des Staats in diejenigen Gebiete, die dem Denken und dem Gefühl angehören, sührt immer zu Tollheiten; seine Sphäre ist die der That, und hier kann er um so energischer auftreten. je reiner sein Gewissen 'se d. h. je weniger er die Freiheit des Denkens und Empfindens beein- trächtigt hat. So weit gehn wir mit den Anforderungen der freien Gemeinden Hand in Hand; daß wir im Uebrigen über die Entwicklung des christlichen Lebens sehr abweichende Begriffe von ihnen haben, ist schon mehrfach, zuletzt im ersten Quartal des Jahres 1S57. Serie 65 auseinandergesetzt. Wir haben seit der Zeit die Zeitschrift, in welcher der geistvollste Vertreter des freigemeindUchcn Wesens für seine Ansichten Propaganda macht, die Königsberger Sonntags¬ post, aufmerksam verfolgt, sie hat uns aber nicht überzeugen können.' Ursprünglich warendie freien Gemeinden ein Nothbehelf. Das Kirchen- Regiment drängte die rationalistischen Geistlichen, die früher ihre Ansicht innerhalb des kirchlichen Lebens hatten bethätigen können, aus der Kirche hinaus; diese sammelten ihre Anhänger, die entweder von den gleichen An¬ sichten ausgingen, oder die durch das Uebergewicht einer bedeutenden Persön¬ lichkeit bestimmt waren, zu einer Neligionsgesellschaft, die zunächst einen ganz individuellen Eharnktcr hatte. Da nun aber nichts so nahe bringt, als ein gemeinsamer Druck, so bemühten sich die verschiedenen freien Gemeinden, mit¬ einander in Rappolt zu treten, und sich nicht blos über eine gemeinsame Hal¬ tung dem Staat gegenüber, sondern auch über dogmatische Grundsätze zu ver¬ ständigen. Der Hintergedanke dabei war. daß durch dieses Verfahren mit der Zeit eine Kirchenreformation in der Art des 16. Jahrhunderts zu Stande ge¬ bracht werden könne. In der Ueberzeugung, daß die Mehrzahl der Gebil¬ deten im Stillen ihren Ansichten beipflichten, daß auch sie in der christlichen Dogmatik mehr eine symbolische als eine reale Wahrheit finden, können die Sprecher der freien Gemeinden ihr Befremden nicht oft genug aussprechen, daß diese Gebildeten nicht offen zu ihnen übertreten. Nicht selten wird dann das Grenzboten I. 1SS9.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/19>, abgerufen am 24.07.2024.