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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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fertigen Geistesrichtung. Die Höhe und Größe einer Tektonik erkannten wir
aber darin, daß sie auch dem rohesten Naturstoff ein höheres Sein, ein kos¬
misches Leben einzuhauchen wisse. Jene Formensprache hat das Mittelalter
nicht gefunden; "dem Mechanismus fehlt die Spiegelung der ewig wahren
Natur.". Die hellenische Kunst, im Monolithenbau befangen, schuf eine voll¬
endete, ewig giltige Formensprache, die mittelalterliche Kunst überwand die
Materie im Gewölbe, ohne jedoch über einen conventionellen Schematismus
hinauskommen zu können. Die Verklärung des Gewölbebaues durch eine
auf dem hellenischen Princip ruhende Formensprache, das ist die Aufgabe der
modernen Baukunst.

Das Bestreben aber. das neuerdings mit so großer Prätension aufgetre¬
ten ist, die gothische Kunst als solche für unsere baulichen Zwecke wiederzu-
erwecken, muß als ein durchaus abenteuerliches mit aller Entschiedenheit zurück¬
gewiesen werden. Wenn wir in der Versöhnung von Geist und Natur das
Princip des modernen Ideals finden müssen, werden wir unmöglich den archi¬
tektonischen Ausdruck dieses Ideals in einer Bauweise suchen können, die ihrer
innersten Wesenheit nach auf dem Widerstreit beider beruht. Wol vermögen
wir es, uns vermittelst der Reflexion jenen mittelalterlichen Geist begreiflich
zu machen, nun und nimmer aber in jenem Geiste selbstschöpferisch thätig zu
sein. Erlosch aber schon gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts jene Flamme
hinreißender Begeisterung, übermächtigen Spiritualismus', welche die leben¬
dige Seele des gothischen Stils ist. und verfiel eben darum der gothische Stil
unaufhaltsam und unwiderruflich seiner Auflösung, so wird eine Wiederbelebung
desselben um so weniger gelingen können, als die Zeit seiner Auflösung eben
diejenige war. die das moderne Ideal ins Dasein rief. -- Die patriotischen
und praktischen Gründe aber, mit denen die Vorkämpfer für gothische Bau¬
weise Proselyten zu machen suchen, können nur als haltlose Scheingründe
bezeichnet werden. Denn wenn schon die Gothi? in Deutschland ihre
consequcnteste. darum aber auch einseitigste Ausbildung erhielt, so ge>
hört sie doch ihrem Ursprung nach, nicht Deutschland, vielmehr Frankreich
an. Ob aber, in architektonischer Beziehung, Werke wie die Kathedrale
von Rheims ohne weiteres deutsch-gothischen Bauten unterzuordnen sind, das
ist eine Frage, die nur der voreilig bejahen möchte, der jene Monumente
gar nicht oder doch nur durch die gefärbte deutsch-gothische Brille gesehen hat-
Was nun jene praktischen Gründe betrifft, um deretwillen man uns die
Gothik anpreist, so finden wir zwar die horizontale Gliederung nach einem
steilen Winkel abgeschrägt, auch mit tiefen Unterscheidungen und Einkchlungen
versehen, können aber hierin nur eine Consequenz des verticalen Stilprincips
erkennen, um so mehr, als jene Abschrügungen und Unterschneidungen auch im
Innern und hier doch wol nicht aus Rücksicht auf das nordische Klima an'


fertigen Geistesrichtung. Die Höhe und Größe einer Tektonik erkannten wir
aber darin, daß sie auch dem rohesten Naturstoff ein höheres Sein, ein kos¬
misches Leben einzuhauchen wisse. Jene Formensprache hat das Mittelalter
nicht gefunden; „dem Mechanismus fehlt die Spiegelung der ewig wahren
Natur.". Die hellenische Kunst, im Monolithenbau befangen, schuf eine voll¬
endete, ewig giltige Formensprache, die mittelalterliche Kunst überwand die
Materie im Gewölbe, ohne jedoch über einen conventionellen Schematismus
hinauskommen zu können. Die Verklärung des Gewölbebaues durch eine
auf dem hellenischen Princip ruhende Formensprache, das ist die Aufgabe der
modernen Baukunst.

Das Bestreben aber. das neuerdings mit so großer Prätension aufgetre¬
ten ist, die gothische Kunst als solche für unsere baulichen Zwecke wiederzu-
erwecken, muß als ein durchaus abenteuerliches mit aller Entschiedenheit zurück¬
gewiesen werden. Wenn wir in der Versöhnung von Geist und Natur das
Princip des modernen Ideals finden müssen, werden wir unmöglich den archi¬
tektonischen Ausdruck dieses Ideals in einer Bauweise suchen können, die ihrer
innersten Wesenheit nach auf dem Widerstreit beider beruht. Wol vermögen
wir es, uns vermittelst der Reflexion jenen mittelalterlichen Geist begreiflich
zu machen, nun und nimmer aber in jenem Geiste selbstschöpferisch thätig zu
sein. Erlosch aber schon gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts jene Flamme
hinreißender Begeisterung, übermächtigen Spiritualismus', welche die leben¬
dige Seele des gothischen Stils ist. und verfiel eben darum der gothische Stil
unaufhaltsam und unwiderruflich seiner Auflösung, so wird eine Wiederbelebung
desselben um so weniger gelingen können, als die Zeit seiner Auflösung eben
diejenige war. die das moderne Ideal ins Dasein rief. — Die patriotischen
und praktischen Gründe aber, mit denen die Vorkämpfer für gothische Bau¬
weise Proselyten zu machen suchen, können nur als haltlose Scheingründe
bezeichnet werden. Denn wenn schon die Gothi? in Deutschland ihre
consequcnteste. darum aber auch einseitigste Ausbildung erhielt, so ge>
hört sie doch ihrem Ursprung nach, nicht Deutschland, vielmehr Frankreich
an. Ob aber, in architektonischer Beziehung, Werke wie die Kathedrale
von Rheims ohne weiteres deutsch-gothischen Bauten unterzuordnen sind, das
ist eine Frage, die nur der voreilig bejahen möchte, der jene Monumente
gar nicht oder doch nur durch die gefärbte deutsch-gothische Brille gesehen hat-
Was nun jene praktischen Gründe betrifft, um deretwillen man uns die
Gothik anpreist, so finden wir zwar die horizontale Gliederung nach einem
steilen Winkel abgeschrägt, auch mit tiefen Unterscheidungen und Einkchlungen
versehen, können aber hierin nur eine Consequenz des verticalen Stilprincips
erkennen, um so mehr, als jene Abschrügungen und Unterschneidungen auch im
Innern und hier doch wol nicht aus Rücksicht auf das nordische Klima an'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/160>, abgerufen am 24.07.2024.