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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Zum neuen Jahr.

Seit zehn Jahren die erste Weihnacht, in welcher das deutsche Volk mit
gehobener Empfindung und freudigem Hoffen einem neuen Jahr entgegensieht.

Selten wurde der innige Verband zwischen Preußen und dem übrigen
Deutschland so augenscheinlich, als in den letzten Monaten; jede erfreuende
Kunde, wie lebhaft wurde sie von den Nachbarstämmen begrüßt, überall die¬
selbe Spannung, derselbe Jubel, bei einer sehr großen Majorität der Deut¬
schen gleiches Urtheil, gleiche Hoffnung, dieselbe herzliche Erhebung.

Erst nach und nach wird der Preuße verstehen, wie viel er in der letzten
häßlichen Vergangenheit ertragen hat, kraftlose Willkür, gewissenslose
Heuchelei, und das Demüthigendste von allem, die Tyrannei der Unfähigkeit.
Und es ist nothwendig, daß dies Verständniß einer Periode, die uns alle
wie ein schwerer Traum quälte, recht schnell und recht eindringlich komme.
Denn um die volle Einsicht in die Schäden und Verbrechen früherer Zustände
macht ihre Wiederkehr unmöglich. Deshalb erfüllt die Presse eine ernste Pflicht,
wenn sie nichts von dem verschweigt, was jetzt der Vergangenheit angehört,
denn es gilt nicht die einzelnen Gestürzten noch tiefer zu demüthigen, sondern
was zu ihrer Zeit gegen Recht, Gesetz und Ehre des Vaterlandes gesündigt
worden, gut zu machen, und dazu ist vor allem nöthig, daß das ganze Volk
erfahre, wie schwer gesündigt. wie viel verdorben ist.

Wir waren auf dem steilen Absturz, der zu einer Revolution führt. Und
die Gefahr war groß. Das Höchste begannen wir zu verlieren, was ein Volk
ebenso wie den Einzelnen vor der Roheit bewahrt, das Selbstgefühl. Es fehlte
dem Heer, dem Beamtenstand, dem Bürgerthum, am meisten dem Adel. Die
Besten waren in Gefahr, einem thatlosen Kleinmuth zu verfallen, die Menge
hatte sich mürrisch, eingeschüchtert, mit engherzigen Egoismus in die kleinen
Interessen des eigenen Lebens zurückgezogen; gealtert erschienen wir alle;
besser, stärker, mannhafter sind nur wenige von allen geworden, die um Poli¬
tik und Regierung des Staates sorgen mußten. Es klang traurig, wenn die,


Vrenzbotm I. 1859.
Zum neuen Jahr.

Seit zehn Jahren die erste Weihnacht, in welcher das deutsche Volk mit
gehobener Empfindung und freudigem Hoffen einem neuen Jahr entgegensieht.

Selten wurde der innige Verband zwischen Preußen und dem übrigen
Deutschland so augenscheinlich, als in den letzten Monaten; jede erfreuende
Kunde, wie lebhaft wurde sie von den Nachbarstämmen begrüßt, überall die¬
selbe Spannung, derselbe Jubel, bei einer sehr großen Majorität der Deut¬
schen gleiches Urtheil, gleiche Hoffnung, dieselbe herzliche Erhebung.

Erst nach und nach wird der Preuße verstehen, wie viel er in der letzten
häßlichen Vergangenheit ertragen hat, kraftlose Willkür, gewissenslose
Heuchelei, und das Demüthigendste von allem, die Tyrannei der Unfähigkeit.
Und es ist nothwendig, daß dies Verständniß einer Periode, die uns alle
wie ein schwerer Traum quälte, recht schnell und recht eindringlich komme.
Denn um die volle Einsicht in die Schäden und Verbrechen früherer Zustände
macht ihre Wiederkehr unmöglich. Deshalb erfüllt die Presse eine ernste Pflicht,
wenn sie nichts von dem verschweigt, was jetzt der Vergangenheit angehört,
denn es gilt nicht die einzelnen Gestürzten noch tiefer zu demüthigen, sondern
was zu ihrer Zeit gegen Recht, Gesetz und Ehre des Vaterlandes gesündigt
worden, gut zu machen, und dazu ist vor allem nöthig, daß das ganze Volk
erfahre, wie schwer gesündigt. wie viel verdorben ist.

Wir waren auf dem steilen Absturz, der zu einer Revolution führt. Und
die Gefahr war groß. Das Höchste begannen wir zu verlieren, was ein Volk
ebenso wie den Einzelnen vor der Roheit bewahrt, das Selbstgefühl. Es fehlte
dem Heer, dem Beamtenstand, dem Bürgerthum, am meisten dem Adel. Die
Besten waren in Gefahr, einem thatlosen Kleinmuth zu verfallen, die Menge
hatte sich mürrisch, eingeschüchtert, mit engherzigen Egoismus in die kleinen
Interessen des eigenen Lebens zurückgezogen; gealtert erschienen wir alle;
besser, stärker, mannhafter sind nur wenige von allen geworden, die um Poli¬
tik und Regierung des Staates sorgen mußten. Es klang traurig, wenn die,


Vrenzbotm I. 1859.
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[0011] Zum neuen Jahr. Seit zehn Jahren die erste Weihnacht, in welcher das deutsche Volk mit gehobener Empfindung und freudigem Hoffen einem neuen Jahr entgegensieht. Selten wurde der innige Verband zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland so augenscheinlich, als in den letzten Monaten; jede erfreuende Kunde, wie lebhaft wurde sie von den Nachbarstämmen begrüßt, überall die¬ selbe Spannung, derselbe Jubel, bei einer sehr großen Majorität der Deut¬ schen gleiches Urtheil, gleiche Hoffnung, dieselbe herzliche Erhebung. Erst nach und nach wird der Preuße verstehen, wie viel er in der letzten häßlichen Vergangenheit ertragen hat, kraftlose Willkür, gewissenslose Heuchelei, und das Demüthigendste von allem, die Tyrannei der Unfähigkeit. Und es ist nothwendig, daß dies Verständniß einer Periode, die uns alle wie ein schwerer Traum quälte, recht schnell und recht eindringlich komme. Denn um die volle Einsicht in die Schäden und Verbrechen früherer Zustände macht ihre Wiederkehr unmöglich. Deshalb erfüllt die Presse eine ernste Pflicht, wenn sie nichts von dem verschweigt, was jetzt der Vergangenheit angehört, denn es gilt nicht die einzelnen Gestürzten noch tiefer zu demüthigen, sondern was zu ihrer Zeit gegen Recht, Gesetz und Ehre des Vaterlandes gesündigt worden, gut zu machen, und dazu ist vor allem nöthig, daß das ganze Volk erfahre, wie schwer gesündigt. wie viel verdorben ist. Wir waren auf dem steilen Absturz, der zu einer Revolution führt. Und die Gefahr war groß. Das Höchste begannen wir zu verlieren, was ein Volk ebenso wie den Einzelnen vor der Roheit bewahrt, das Selbstgefühl. Es fehlte dem Heer, dem Beamtenstand, dem Bürgerthum, am meisten dem Adel. Die Besten waren in Gefahr, einem thatlosen Kleinmuth zu verfallen, die Menge hatte sich mürrisch, eingeschüchtert, mit engherzigen Egoismus in die kleinen Interessen des eigenen Lebens zurückgezogen; gealtert erschienen wir alle; besser, stärker, mannhafter sind nur wenige von allen geworden, die um Poli¬ tik und Regierung des Staates sorgen mußten. Es klang traurig, wenn die, Vrenzbotm I. 1859.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/11>, abgerufen am 24.07.2024.