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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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unbefangen, denn sie hat die ältern berühmten Vorbilder vor Augen, deren
Art sich durch eine lange Tradition fortgepflanzt hat, und da die Freude an
der Nachahmung nicht grade zu der Signatur unsrer Zeit gehört, so fühlt die
Schauspielerin von Talent sich leicht versucht, ihre Vorgänger dadurch zu über¬
bieten, daß sie die Rollen geistreich d. h. capriciös, allenfalls auch etwas ba¬
rock auffaßt. Es ist ein sehr seltnes Verdienst, dieser Neigung des Zeitalters
zum Subtilisiren gegenüber das starke Gefühl für Wahrheit festzuhalten, wie
es bei Marie Seebach der Fall ist.

Mit den dramatischen Dichtungen gehn die Bühnen Hand in Hand; mehr
und mehr verliert sich, in ihnen, was man früher Schule nannte. Wir meinen
damit nicht Schule in dem idealen Sinne, wie es Eduard Devrient versteht,
sondern Schule in der Weise Schröters, Ifflands, auch Goethes, trotz der
einseitigen Richtung des letzern. Die Schule besteht in der Disciplin, vereine'
mächtige künstlerische Persönlichkeit seine Bühne unterwirft. Lange nachdem jene
drei Männer die Bühne aufgegeben hatten, wirkte ihre Schule durch ältere,
tüchtige Schauspieler noch sort; sie ist jetzt, wenn nicht abgestorben, doch im
schnellen Absterben begriffen; eine neue Schule ist nicht entstanden, und so hat
jeder Einzelne im Nebel seinen Weg zu suchen. Das Gefühl der Achtung
vor einer reifern Kunst verliert sich mehr und mehr; "dem genialen Geschlecht
wird es im Traum bescheert;" und immer seltner werden die Schauspieler,
die auch nur die äußere Technik des Handwerks sich angeeignet haben.

Die Spitze erreicht diese Anarchie und dieser Individualismus in der Art
und Weise unsrer Gastspiele. Man mag lächeln, wenn man liest, wie sorg¬
fältig Goethe seine Schauspieler unter Schloß und Riegel hielt, wie sie trotz
ihres kläglichen Gehalts sich nicht erlauben durften, irgend wo anders auf¬
zutreten; aber die Heimathlosigkeit unsrer Tage ist ein noch viel ärgeres Ex¬
trem. Bald wird es Regel sein, daß Künstler von größerm Ruf gär kein festes
Engagement mehr annehmen, daß sie nur auf den Eisenbahnen zu Hause sind,
und Tag aus Tag ein aus einer Stadt in die andere sich Hetzen lassen. Für
das Publicum hat das manche Annehmlichkeit, denn fast jede Mittelstadt kann
nun die größten Künstler Deutschlands mit eignen Augen anschauen; der
Künstler selbst kann schnell reich werden und was ihm doch das Süßeste in
seiner Laufbahn ist, der unmittelbare Erfolg, der Jubel und die Begeisterung
der Menge, wird ihm reichlicher und brausender zu Theil. Aber er lebt auch
viel schneller als sonst, und selbst wenn seine physische Kraft einer so aufreibenden
Thätigkeit widersteht, so ist er doch der schweren Versuchung ausgesetzt, durch
starkes Auftragen der Farben dem fremden Publicum rasch zu imponiren, aus
Mangel an jener Sammlung, die für jeden Künstler nothwendig ist, das
Mechanische der Kunstmittel überwuchern zu lassen, und endlich aus dem Künstler


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unbefangen, denn sie hat die ältern berühmten Vorbilder vor Augen, deren
Art sich durch eine lange Tradition fortgepflanzt hat, und da die Freude an
der Nachahmung nicht grade zu der Signatur unsrer Zeit gehört, so fühlt die
Schauspielerin von Talent sich leicht versucht, ihre Vorgänger dadurch zu über¬
bieten, daß sie die Rollen geistreich d. h. capriciös, allenfalls auch etwas ba¬
rock auffaßt. Es ist ein sehr seltnes Verdienst, dieser Neigung des Zeitalters
zum Subtilisiren gegenüber das starke Gefühl für Wahrheit festzuhalten, wie
es bei Marie Seebach der Fall ist.

Mit den dramatischen Dichtungen gehn die Bühnen Hand in Hand; mehr
und mehr verliert sich, in ihnen, was man früher Schule nannte. Wir meinen
damit nicht Schule in dem idealen Sinne, wie es Eduard Devrient versteht,
sondern Schule in der Weise Schröters, Ifflands, auch Goethes, trotz der
einseitigen Richtung des letzern. Die Schule besteht in der Disciplin, vereine'
mächtige künstlerische Persönlichkeit seine Bühne unterwirft. Lange nachdem jene
drei Männer die Bühne aufgegeben hatten, wirkte ihre Schule durch ältere,
tüchtige Schauspieler noch sort; sie ist jetzt, wenn nicht abgestorben, doch im
schnellen Absterben begriffen; eine neue Schule ist nicht entstanden, und so hat
jeder Einzelne im Nebel seinen Weg zu suchen. Das Gefühl der Achtung
vor einer reifern Kunst verliert sich mehr und mehr; „dem genialen Geschlecht
wird es im Traum bescheert;" und immer seltner werden die Schauspieler,
die auch nur die äußere Technik des Handwerks sich angeeignet haben.

Die Spitze erreicht diese Anarchie und dieser Individualismus in der Art
und Weise unsrer Gastspiele. Man mag lächeln, wenn man liest, wie sorg¬
fältig Goethe seine Schauspieler unter Schloß und Riegel hielt, wie sie trotz
ihres kläglichen Gehalts sich nicht erlauben durften, irgend wo anders auf¬
zutreten; aber die Heimathlosigkeit unsrer Tage ist ein noch viel ärgeres Ex¬
trem. Bald wird es Regel sein, daß Künstler von größerm Ruf gär kein festes
Engagement mehr annehmen, daß sie nur auf den Eisenbahnen zu Hause sind,
und Tag aus Tag ein aus einer Stadt in die andere sich Hetzen lassen. Für
das Publicum hat das manche Annehmlichkeit, denn fast jede Mittelstadt kann
nun die größten Künstler Deutschlands mit eignen Augen anschauen; der
Künstler selbst kann schnell reich werden und was ihm doch das Süßeste in
seiner Laufbahn ist, der unmittelbare Erfolg, der Jubel und die Begeisterung
der Menge, wird ihm reichlicher und brausender zu Theil. Aber er lebt auch
viel schneller als sonst, und selbst wenn seine physische Kraft einer so aufreibenden
Thätigkeit widersteht, so ist er doch der schweren Versuchung ausgesetzt, durch
starkes Auftragen der Farben dem fremden Publicum rasch zu imponiren, aus
Mangel an jener Sammlung, die für jeden Künstler nothwendig ist, das
Mechanische der Kunstmittel überwuchern zu lassen, und endlich aus dem Künstler


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/79>, abgerufen am 22.07.2024.