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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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eines Dragoners zu reden, sondern stille ernste Naturen mit ruhigem und doch
weitem Blick, mit fester, sicherer, fast harter Zeichnung und mit einem Denken,
das den Gesetzen der Logik folgt. Am meisten zeigt sich diese Richtung des
Talents bei der Zeichnung männlicher Figuren. Frau v. Staöl und George
Sand, die erste mit einem umfassenden Geist, die andern mit großer dichte¬
rischer Imagination ausgestattet, haben die Schwächen der Männer sehr fein
zu durchschauen und glänzend wiederzugeben verstanden; aber eine starke, ge-
sunde, männliche S^ele zu zeichnen, ist ihnen nicht gelungen. Das ist bei
vielen modernen Dichterinnen jetzt ganz anders geworden, und wenn man
über so manche Molluske unserer neuen Literatur in Verzweiflung gerathen
mochte, so-kann man sich bei den festen harten Männergestalten englischer
Dichterinnen entschädigen.

^clam Leclo. 6 sorge Lliot, ^utuor ,,8esu6 0k elerieiü um."
dox^iiglrt. kdition. 2 Bd., Leipzig, Tauchnitz. -- Daß der Pseudonyme
Autor eine Verfasserin verbirgt -- man vermuthet eine intime Freundin von
Lewes, dem Biographen Goethes -- gilt in England für ausgemacht. Wieder
eine würdige Nachfolgerin von Currcr Bell, Julie Kavanagh u. f. w. Del
neueste realistische Roman hat jenseit des Kanals noch eine andere Bedeutung
als für uns. Der eigentliche Vater desselben ist Carlyle, der in ?äst. auel
?i-esizut mit tiefem Gefühl für alles Menschliche, mit scharfer Sonde in die
geheimen Schäden der Gesellschaft einzudringen versuchte. An ihn schloß sich
der Pastor Kingslcy (^.Iton I^oelcv, ^east. und zahlreiche Streitschriften; später
hat er dieselbe Methode auf den historischen Roman anzuwenden gesucht); in
weiterer Linie Mrs Gaskell (Niu-^ Lartori, Iiut.Il) und die vorher genannten
Schriftstellerinnen; Lewes selbst steht ihnen nahe, in gewissem Sinn kann man
auch Thackeray und Warrcns dazu rechnen, obgleich bei diesen das novellistische
Interesse dein socialen den Rang abläuft. Die Keunzeichen der neuen Schule
sind folgende: 1) Tiefes Interesse für die nothleidenden Classen und die gel'
feigen Bewegungen derselben, die ausführlich geschildert werden, um einen Weg
zur Verbesserung zu finden; 2) Vertiefung aller einzelnen Personen in diesen
least, (Hefe, Währung, Gischt), als dessen Träger sie erscheinen; Unterordnung
des Romans unter die sociale Tendenz; 3) Detail der Ausführung, nicht um
den Gang der Handlung deutlicher zu machen, sondern um die Seele des
Volks in ihren geheimen Tiefen zu ergründen; alle diese Romane sind Studien,
aus denen man etwa Bücher wie IlOnävu I^Korn- and I-ouclou ?vor (Henry
Mayhew) zusammentragen kann; 4) Vorliebe für massive, naturwüchsig^
Charaktere, namentlich in den untersten Classen; 5) tiefes Interesse für die
Religion, nicht als Kirche, sondern als subjective Glaubensforni. -- Ada"'
Bete und sein Bruder Seth, die beiden Haupthelden. sind arme Handwerker;
auch die beiden Heldinnen, die Mcthodistin Dinah und die leichtsinnige schone


eines Dragoners zu reden, sondern stille ernste Naturen mit ruhigem und doch
weitem Blick, mit fester, sicherer, fast harter Zeichnung und mit einem Denken,
das den Gesetzen der Logik folgt. Am meisten zeigt sich diese Richtung des
Talents bei der Zeichnung männlicher Figuren. Frau v. Staöl und George
Sand, die erste mit einem umfassenden Geist, die andern mit großer dichte¬
rischer Imagination ausgestattet, haben die Schwächen der Männer sehr fein
zu durchschauen und glänzend wiederzugeben verstanden; aber eine starke, ge-
sunde, männliche S^ele zu zeichnen, ist ihnen nicht gelungen. Das ist bei
vielen modernen Dichterinnen jetzt ganz anders geworden, und wenn man
über so manche Molluske unserer neuen Literatur in Verzweiflung gerathen
mochte, so-kann man sich bei den festen harten Männergestalten englischer
Dichterinnen entschädigen.

^clam Leclo. 6 sorge Lliot, ^utuor ,,8esu6 0k elerieiü um."
dox^iiglrt. kdition. 2 Bd., Leipzig, Tauchnitz. — Daß der Pseudonyme
Autor eine Verfasserin verbirgt — man vermuthet eine intime Freundin von
Lewes, dem Biographen Goethes — gilt in England für ausgemacht. Wieder
eine würdige Nachfolgerin von Currcr Bell, Julie Kavanagh u. f. w. Del
neueste realistische Roman hat jenseit des Kanals noch eine andere Bedeutung
als für uns. Der eigentliche Vater desselben ist Carlyle, der in ?äst. auel
?i-esizut mit tiefem Gefühl für alles Menschliche, mit scharfer Sonde in die
geheimen Schäden der Gesellschaft einzudringen versuchte. An ihn schloß sich
der Pastor Kingslcy (^.Iton I^oelcv, ^east. und zahlreiche Streitschriften; später
hat er dieselbe Methode auf den historischen Roman anzuwenden gesucht); in
weiterer Linie Mrs Gaskell (Niu-^ Lartori, Iiut.Il) und die vorher genannten
Schriftstellerinnen; Lewes selbst steht ihnen nahe, in gewissem Sinn kann man
auch Thackeray und Warrcns dazu rechnen, obgleich bei diesen das novellistische
Interesse dein socialen den Rang abläuft. Die Keunzeichen der neuen Schule
sind folgende: 1) Tiefes Interesse für die nothleidenden Classen und die gel'
feigen Bewegungen derselben, die ausführlich geschildert werden, um einen Weg
zur Verbesserung zu finden; 2) Vertiefung aller einzelnen Personen in diesen
least, (Hefe, Währung, Gischt), als dessen Träger sie erscheinen; Unterordnung
des Romans unter die sociale Tendenz; 3) Detail der Ausführung, nicht um
den Gang der Handlung deutlicher zu machen, sondern um die Seele des
Volks in ihren geheimen Tiefen zu ergründen; alle diese Romane sind Studien,
aus denen man etwa Bücher wie IlOnävu I^Korn- and I-ouclou ?vor (Henry
Mayhew) zusammentragen kann; 4) Vorliebe für massive, naturwüchsig^
Charaktere, namentlich in den untersten Classen; 5) tiefes Interesse für die
Religion, nicht als Kirche, sondern als subjective Glaubensforni. — Ada»'
Bete und sein Bruder Seth, die beiden Haupthelden. sind arme Handwerker;
auch die beiden Heldinnen, die Mcthodistin Dinah und die leichtsinnige schone


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[0508] eines Dragoners zu reden, sondern stille ernste Naturen mit ruhigem und doch weitem Blick, mit fester, sicherer, fast harter Zeichnung und mit einem Denken, das den Gesetzen der Logik folgt. Am meisten zeigt sich diese Richtung des Talents bei der Zeichnung männlicher Figuren. Frau v. Staöl und George Sand, die erste mit einem umfassenden Geist, die andern mit großer dichte¬ rischer Imagination ausgestattet, haben die Schwächen der Männer sehr fein zu durchschauen und glänzend wiederzugeben verstanden; aber eine starke, ge- sunde, männliche S^ele zu zeichnen, ist ihnen nicht gelungen. Das ist bei vielen modernen Dichterinnen jetzt ganz anders geworden, und wenn man über so manche Molluske unserer neuen Literatur in Verzweiflung gerathen mochte, so-kann man sich bei den festen harten Männergestalten englischer Dichterinnen entschädigen. ^clam Leclo. 6 sorge Lliot, ^utuor ,,8esu6 0k elerieiü um." dox^iiglrt. kdition. 2 Bd., Leipzig, Tauchnitz. — Daß der Pseudonyme Autor eine Verfasserin verbirgt — man vermuthet eine intime Freundin von Lewes, dem Biographen Goethes — gilt in England für ausgemacht. Wieder eine würdige Nachfolgerin von Currcr Bell, Julie Kavanagh u. f. w. Del neueste realistische Roman hat jenseit des Kanals noch eine andere Bedeutung als für uns. Der eigentliche Vater desselben ist Carlyle, der in ?äst. auel ?i-esizut mit tiefem Gefühl für alles Menschliche, mit scharfer Sonde in die geheimen Schäden der Gesellschaft einzudringen versuchte. An ihn schloß sich der Pastor Kingslcy (^.Iton I^oelcv, ^east. und zahlreiche Streitschriften; später hat er dieselbe Methode auf den historischen Roman anzuwenden gesucht); in weiterer Linie Mrs Gaskell (Niu-^ Lartori, Iiut.Il) und die vorher genannten Schriftstellerinnen; Lewes selbst steht ihnen nahe, in gewissem Sinn kann man auch Thackeray und Warrcns dazu rechnen, obgleich bei diesen das novellistische Interesse dein socialen den Rang abläuft. Die Keunzeichen der neuen Schule sind folgende: 1) Tiefes Interesse für die nothleidenden Classen und die gel' feigen Bewegungen derselben, die ausführlich geschildert werden, um einen Weg zur Verbesserung zu finden; 2) Vertiefung aller einzelnen Personen in diesen least, (Hefe, Währung, Gischt), als dessen Träger sie erscheinen; Unterordnung des Romans unter die sociale Tendenz; 3) Detail der Ausführung, nicht um den Gang der Handlung deutlicher zu machen, sondern um die Seele des Volks in ihren geheimen Tiefen zu ergründen; alle diese Romane sind Studien, aus denen man etwa Bücher wie IlOnävu I^Korn- and I-ouclou ?vor (Henry Mayhew) zusammentragen kann; 4) Vorliebe für massive, naturwüchsig^ Charaktere, namentlich in den untersten Classen; 5) tiefes Interesse für die Religion, nicht als Kirche, sondern als subjective Glaubensforni. — Ada»' Bete und sein Bruder Seth, die beiden Haupthelden. sind arme Handwerker; auch die beiden Heldinnen, die Mcthodistin Dinah und die leichtsinnige schone

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/508>, abgerufen am 23.07.2024.