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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Es liegt eine unsägliche Lust für mich darin, mir Unrecht von dir vergeben
zu lassen; der Schmerz über mich wird ganz überwältigt von der Freude über
dich. Mit meinem körperlichen Zustand weiß ich nicht, ob es besser wird,
oder ob das Gefühl desselben blos vor der ungeheuren Erschein¬
ung des Augenblicks zurücktritt. Ich fühle mich leichter und an¬
genehmer als sonst. Es scheint mir, als ob das allgemeine
Unglück die Menschen erzöge, ich finde sie weiser und wärmer
und ihre Ansicht von der Welt großherziger. Ich machte noch heute
diese Bemerkung an Altenstein. diesem vortrefflichen Manne, vor dem sich
meine Seele erst jetzt mit völliger Freiheit entwickeln kann. Ich habe ihn
schon, da ich mich unpäßlich fühlte, bei mir gesehen; wir können wie zwei
Freunde mit einander reden. An unsere Königin kann ich gar nicht ohne
Rührung denken. In diesem Kriege, den sie einen unglücklichen nennt, macht
sie einen größeren Gewinn, als sie in einem ganzen Leben voll Frieden
und Freuden gemacht haben würde. Man sieht sie einen wahrhaft königli¬
chen Charakter entwickeln. Sie hat den ganzen großen Gegenstand, auf den
es jetzt ankommt, umfaßt; sie. deren Seele noch vor Kurzem mit nichts be¬
schäftigt schien, als wie sie beim Tanzen oder Reiten gefalle." Damals er¬
hielt Kleist von der Königin eine Pension von ki0 Louisdor.

Trotz dieser Empfindungen beschließt Kleist, das Preußische zu verlässt"
und nach Dresden zu gehen (wohl durch Rüste aufgefordert), um ganz der
Literatur zu leben. Ende Januar 1807 ist er in Berlin*), wo er einige
Tage nach seiner Ankunft mit zwei andern verabschiedeten Officieren von de"
Franzosen verhaftet und nach Frankreich transportirt wird. "Vielleicht." schreibt
er 17. Febr. 1807 aus Marburg, "gibt es nicht drei Menschen in der Welt, die
den Franzosen gleichgültiger sein konnten, als wir in jenem Augenblick."
Den 5. März kämmen sie in Fort Joux an, und werden anfangs w lMt"
Haft gehalten; indeß bezeichnet sie der Gouverneur von Berlin, s. April-
auf die Verwendung Ulrikens als unschädlich. und schon den 23. April sind
sie in Chalvns. mit völliger Freiheit, aber auf Ehrenwort. Der Uebelstand ist
nur, daß man ihnen gar keinen Sold zahlt, da man nicht weiß, ob um"
sie in die Kategorie der staatsgefangenen oder Kriegsgefangenen stellen soll.^1




") So Ulrike in dein Brief an Clarke, S. le!2, in welchem die Angaben g-w'ß
genau sind; die Stelle scheint Koberstein (S. XVIII) übersehen zu baben. Den 31. T>ce>
war der Entschluß, abzureisen, noch nicht gefaßt. (S. 113)
"") Den 8. Mai schreibt er: "Rüste hat ein Manuscript (den Amphitryon), ^
mir unter andern Verhältnisse" das Dreifache werth wäre, für 24 Louisdor verkaufen muss-"-
Heute würde man wohl für die Ncberseluing eines französische" Lustspiels von einem unbekann¬
ten Dichter nicht soviel geben. -- "Ich habe deren noch in diesem Augenblick zwei fertig-
Wohl die Penthcfilea und den "Zerbrochenen Krug."

Es liegt eine unsägliche Lust für mich darin, mir Unrecht von dir vergeben
zu lassen; der Schmerz über mich wird ganz überwältigt von der Freude über
dich. Mit meinem körperlichen Zustand weiß ich nicht, ob es besser wird,
oder ob das Gefühl desselben blos vor der ungeheuren Erschein¬
ung des Augenblicks zurücktritt. Ich fühle mich leichter und an¬
genehmer als sonst. Es scheint mir, als ob das allgemeine
Unglück die Menschen erzöge, ich finde sie weiser und wärmer
und ihre Ansicht von der Welt großherziger. Ich machte noch heute
diese Bemerkung an Altenstein. diesem vortrefflichen Manne, vor dem sich
meine Seele erst jetzt mit völliger Freiheit entwickeln kann. Ich habe ihn
schon, da ich mich unpäßlich fühlte, bei mir gesehen; wir können wie zwei
Freunde mit einander reden. An unsere Königin kann ich gar nicht ohne
Rührung denken. In diesem Kriege, den sie einen unglücklichen nennt, macht
sie einen größeren Gewinn, als sie in einem ganzen Leben voll Frieden
und Freuden gemacht haben würde. Man sieht sie einen wahrhaft königli¬
chen Charakter entwickeln. Sie hat den ganzen großen Gegenstand, auf den
es jetzt ankommt, umfaßt; sie. deren Seele noch vor Kurzem mit nichts be¬
schäftigt schien, als wie sie beim Tanzen oder Reiten gefalle." Damals er¬
hielt Kleist von der Königin eine Pension von ki0 Louisdor.

Trotz dieser Empfindungen beschließt Kleist, das Preußische zu verlässt»
und nach Dresden zu gehen (wohl durch Rüste aufgefordert), um ganz der
Literatur zu leben. Ende Januar 1807 ist er in Berlin*), wo er einige
Tage nach seiner Ankunft mit zwei andern verabschiedeten Officieren von de»
Franzosen verhaftet und nach Frankreich transportirt wird. „Vielleicht." schreibt
er 17. Febr. 1807 aus Marburg, „gibt es nicht drei Menschen in der Welt, die
den Franzosen gleichgültiger sein konnten, als wir in jenem Augenblick."
Den 5. März kämmen sie in Fort Joux an, und werden anfangs w lMt"
Haft gehalten; indeß bezeichnet sie der Gouverneur von Berlin, s. April-
auf die Verwendung Ulrikens als unschädlich. und schon den 23. April sind
sie in Chalvns. mit völliger Freiheit, aber auf Ehrenwort. Der Uebelstand ist
nur, daß man ihnen gar keinen Sold zahlt, da man nicht weiß, ob um»
sie in die Kategorie der staatsgefangenen oder Kriegsgefangenen stellen soll.^1




") So Ulrike in dein Brief an Clarke, S. le!2, in welchem die Angaben g-w'ß
genau sind; die Stelle scheint Koberstein (S. XVIII) übersehen zu baben. Den 31. T>ce>
war der Entschluß, abzureisen, noch nicht gefaßt. (S. 113)
"") Den 8. Mai schreibt er: „Rüste hat ein Manuscript (den Amphitryon), ^
mir unter andern Verhältnisse» das Dreifache werth wäre, für 24 Louisdor verkaufen muss-"-
Heute würde man wohl für die Ncberseluing eines französische» Lustspiels von einem unbekann¬
ten Dichter nicht soviel geben. — „Ich habe deren noch in diesem Augenblick zwei fertig-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/504>, abgerufen am 22.07.2024.