Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.nicht bestimmen"; "aber es sind Gedanken, die uns könnten todten, den Geist Die komische Wendung des Schlußverses steht nicht isolirt; ihre Seele ist Zu den "Goten", den Geistern der Lüge, die ihrer innern Hohlheit nicht bestimmen"; „aber es sind Gedanken, die uns könnten todten, den Geist Die komische Wendung des Schlußverses steht nicht isolirt; ihre Seele ist Zu den „Goten", den Geistern der Lüge, die ihrer innern Hohlheit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0465" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108595"/> <p xml:id="ID_1443" prev="#ID_1442"> nicht bestimmen"; „aber es sind Gedanken, die uns könnten todten, den Geist<lb/> betäuben, rauben jedes Glück, mit tausendfachem Mord die Hände röthen,<lb/> und leise schaudernd wend' ich meinen Blick." Seltsam! tauchten solche Ge¬<lb/> danken vor vierzig Jahren denn weniger auf? und liegt ihre Pein nicht le¬<lb/> diglich in der individuellen Seele? Das gibt sie aber nicht zu: „o schlimme<lb/> Zeit!" fährt sie fort, „die solche Gäste rief in meines Busens harmlos lichte<lb/> Bläue! o schlechte Welt! die mich so lang und tief ließ grübeln über eines<lb/> Pudels Treue."</p><lb/> <p xml:id="ID_1444"> Die komische Wendung des Schlußverses steht nicht isolirt; ihre Seele ist<lb/> den Gespenstern nicht willenlos hingegeben, sie weiß ihnen zuweilen die feinste<lb/> Ironie entgegenzusetzen; sie ist nicht die einsame Nonne, sondern die Dame<lb/> von Welt, welcher der Spott im Grunde ebenso natürlich steht, als das Grauen<lb/> vor ihren eignen Gestalten. Der Hohn gegen den empfindsamen Poeten, der<lb/> sür echte Natur keinen Sinn hat (I. S. 213), die Schilderung des ästhetischen<lb/> Thees (S. 21?) sind vortrefflich; und das Gedicht „Gastrecht" (II. S. 6g)<lb/> rührt von keiner Nonne her: „Ich war in einem schönen Haus und schien<lb/> darin ein lieber Gast; die Damen sahn wie Musen fast, sogar die Hunde<lb/> geistreich aus. Die Lust, von Ambraduft bewegt, schien aufgelöste Phantasie,<lb/> und wenn ein Vorhang sich geregt, dann war sein Flüstern Poesie. Zwar<lb/> trat mir oft ein Schwindel nah — ich bin an Aether nicht gewöhnt — doch<lb/> hat der Zauber mich versöhnt, und reiche Stunden lebt' ich da. All was man<lb/> sagte war so klar und so vortrefflich durchgeführt, daß ich mich habe ganz und<lb/> gar als wie ein Erzkameel gespürt." In dieser Gesellschaft erscheint ein Frem¬<lb/> der, den man sehr höflich behandelt; kaum aber ist er fort, so fällt man mit<lb/> Stachelreden über ihn her. Annette schlägt eine alte Geschichte auf. von dem<lb/> Kalifen Mutasser. der einen Mörder begnadigt, weil er zufällig von seinem<lb/> Scherbet geschlürft und dadurch sein Gast geworden. „Ich schloß das Buch<lb/> und dachte nach an Türken. Christen, mancherlei ..." Es spricht auch<lb/> hier der Haß der Lüge; der Abscheu gegen die „Goten", gleichviel ob es<lb/> Christen oder moderne Ungläubige sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1445" next="#ID_1446"> Zu den „Goten", den Geistern der Lüge, die ihrer innern Hohlheit<lb/> >vegen weder der Erde noch dem Himmel angehören, rechnet Annette vor allen<lb/> Gingen die Worte von allgemeiner Bedeutung ohne concrete Anschaulichkeit.<lb/> Sehr interessant ist. wie sie II. S. 15 die Sehnsucht nach dem Vaterlande in-<lb/> dividualisirt: „Dann ist es mir. als hör' ich reiten und klirren und ent-<lb/> Segenziehn das Vaterland von allen Seiten, und seine Küsse fühl' ich<lb/> Stuhr; dann wird des Windes leises Munkeln mir zu verworrenen Stimmen<lb/> bald, und jede schwache Form im Dunkeln zur vielvertrautesten Gestalt." Im<lb/> Man Augenblick erscheinen diese Prädicate. auf das „Vaterland" angewandt,<lb/> s^nich sonderbar; aber bei näherem Zusehn erkennt man alsbald, daß das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0465]
nicht bestimmen"; „aber es sind Gedanken, die uns könnten todten, den Geist
betäuben, rauben jedes Glück, mit tausendfachem Mord die Hände röthen,
und leise schaudernd wend' ich meinen Blick." Seltsam! tauchten solche Ge¬
danken vor vierzig Jahren denn weniger auf? und liegt ihre Pein nicht le¬
diglich in der individuellen Seele? Das gibt sie aber nicht zu: „o schlimme
Zeit!" fährt sie fort, „die solche Gäste rief in meines Busens harmlos lichte
Bläue! o schlechte Welt! die mich so lang und tief ließ grübeln über eines
Pudels Treue."
Die komische Wendung des Schlußverses steht nicht isolirt; ihre Seele ist
den Gespenstern nicht willenlos hingegeben, sie weiß ihnen zuweilen die feinste
Ironie entgegenzusetzen; sie ist nicht die einsame Nonne, sondern die Dame
von Welt, welcher der Spott im Grunde ebenso natürlich steht, als das Grauen
vor ihren eignen Gestalten. Der Hohn gegen den empfindsamen Poeten, der
sür echte Natur keinen Sinn hat (I. S. 213), die Schilderung des ästhetischen
Thees (S. 21?) sind vortrefflich; und das Gedicht „Gastrecht" (II. S. 6g)
rührt von keiner Nonne her: „Ich war in einem schönen Haus und schien
darin ein lieber Gast; die Damen sahn wie Musen fast, sogar die Hunde
geistreich aus. Die Lust, von Ambraduft bewegt, schien aufgelöste Phantasie,
und wenn ein Vorhang sich geregt, dann war sein Flüstern Poesie. Zwar
trat mir oft ein Schwindel nah — ich bin an Aether nicht gewöhnt — doch
hat der Zauber mich versöhnt, und reiche Stunden lebt' ich da. All was man
sagte war so klar und so vortrefflich durchgeführt, daß ich mich habe ganz und
gar als wie ein Erzkameel gespürt." In dieser Gesellschaft erscheint ein Frem¬
der, den man sehr höflich behandelt; kaum aber ist er fort, so fällt man mit
Stachelreden über ihn her. Annette schlägt eine alte Geschichte auf. von dem
Kalifen Mutasser. der einen Mörder begnadigt, weil er zufällig von seinem
Scherbet geschlürft und dadurch sein Gast geworden. „Ich schloß das Buch
und dachte nach an Türken. Christen, mancherlei ..." Es spricht auch
hier der Haß der Lüge; der Abscheu gegen die „Goten", gleichviel ob es
Christen oder moderne Ungläubige sind.
Zu den „Goten", den Geistern der Lüge, die ihrer innern Hohlheit
>vegen weder der Erde noch dem Himmel angehören, rechnet Annette vor allen
Gingen die Worte von allgemeiner Bedeutung ohne concrete Anschaulichkeit.
Sehr interessant ist. wie sie II. S. 15 die Sehnsucht nach dem Vaterlande in-
dividualisirt: „Dann ist es mir. als hör' ich reiten und klirren und ent-
Segenziehn das Vaterland von allen Seiten, und seine Küsse fühl' ich
Stuhr; dann wird des Windes leises Munkeln mir zu verworrenen Stimmen
bald, und jede schwache Form im Dunkeln zur vielvertrautesten Gestalt." Im
Man Augenblick erscheinen diese Prädicate. auf das „Vaterland" angewandt,
s^nich sonderbar; aber bei näherem Zusehn erkennt man alsbald, daß das
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