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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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ein Bild, eine Empfindung in die andere übergeht. Es soll damit gar nicht
geleugnet werden, daß es solche Menschen giebt, noch viel weniger soll behaup¬
tet werden, daß Tieck in moralisch schlechter Absicht solche Bilder entworfen
habe; seine Unfähigkeit, wirkliche Gestalten zu schaffen, verbunden mit seinem
großen Talent, Stimmungen auszumalen, hat jene Bilder hervorgebracht, die
auf ihre Freunde und Verehrer eine sittlich entnervende Wirkung haben mu߬
ten. Wenn man gegen die Moralisten des vorigen Jahrhunderts declamirt,
so vergißt man dabei, daß das Gewissen, auch künstlerisch betrachtet, ein integ-
rirender Theil der Person ist, und daß man durch die Ausscheidung desselben
die Person in einen Schemen verwandelt. Mit Recht verachtet man Eulalia
Meinau, aber was ist denn Lovell anders? Der große Unterschied der Bil¬
dung und des Geschmacks ändert an der Hauptsache nichts. -- Darum muß
ich auch, so gern ich den wunderbar berauschenden Duft in dem Märchen:
der blonde Eckbert anerkenne, der Ansicht des S. 2177 angeführten Recen¬
senten beipflichten: "es mangle ihm an der hinlänglichen Motivirung der Hand-
lungen und über dem Ganzen schwebe ein widriges Dunkel; selbst ein Macht¬
spruch aus dem Geisterreiche wäre erträglicher gewesen als dieser gänzliche
Mangel einer befriedigenden Aufklärung." Dieses Traumwesen liegt auch nicht
etwa im Charakter! des echten Märchens, welches vielmehr durchweg von sehr
erkennbaren handgreiflichen Motiven ausgeht.

§. 328. S. 2179. -- Die beiden Schlegel. -- Was bei sämmtlichen
Paragraphen anzuführen wäre, die gründliche Aufsuchung des Materials, ist
an diesem doppelt zu rühmen, weil namentlich Friedrich Schlegel seine Arbeiten
an alle möglichen Journale verzettelte, die heute kaum mehr auszutreiben sind, und
Keil es für die Einsicht in seinen Bildungsgang von der größten Wichtigkeit ist,
auch die erste Fassung seiner Ansicht kennen zu lernen. Daß Koberstein auch A. W.
Schlegels Kritiken ausführlich ^xcerpirt, würde manchem überflüssig erscheinen,
^ sie in der Böckingschen Ausgabe vorliegen; aber die gediegene Form der¬
selben ist ein heilsames Gegengewicht gegen die Paradoxien des jüngern Bru¬
ders. -- Die Kritik Goethes von 1789 und 1790 gehört zum Besten, was
die deutsche Kritik überhaupt geleistet hat; freilich ist sie auch, wenn man
die durch den Einfluß der Schule hervorgerufenen Vorlesungen von 1802 und
1803 damit vergleicht, ein Beweis, daß für den wahren Kritiker noch etwas
anderes nöthig ist, als gründliche Einsicht. -- Bei der vortrefflichen Recension
"Künstler" (S. 2182) Ware zu erwähnen gewesen, daß Schlegel sie später
^ehe in seine Kritiken aufnahm. -- Die Recension der Hören ist nicht mehr
6anz unbefangen (S. 2186); was Schlegel von den "Episteln" und ramene-
^ den "Märchen" sagt, würde Schlegel als unabhängiger Kritiker kaum ge-
^ge haben. -- Was die Kritik des Voßischen Homer betrifft (S. 2189), so
stimme ich Koberstein vollständig bei, sie ist mustergültig: aber er hätte hinzu-


ein Bild, eine Empfindung in die andere übergeht. Es soll damit gar nicht
geleugnet werden, daß es solche Menschen giebt, noch viel weniger soll behaup¬
tet werden, daß Tieck in moralisch schlechter Absicht solche Bilder entworfen
habe; seine Unfähigkeit, wirkliche Gestalten zu schaffen, verbunden mit seinem
großen Talent, Stimmungen auszumalen, hat jene Bilder hervorgebracht, die
auf ihre Freunde und Verehrer eine sittlich entnervende Wirkung haben mu߬
ten. Wenn man gegen die Moralisten des vorigen Jahrhunderts declamirt,
so vergißt man dabei, daß das Gewissen, auch künstlerisch betrachtet, ein integ-
rirender Theil der Person ist, und daß man durch die Ausscheidung desselben
die Person in einen Schemen verwandelt. Mit Recht verachtet man Eulalia
Meinau, aber was ist denn Lovell anders? Der große Unterschied der Bil¬
dung und des Geschmacks ändert an der Hauptsache nichts. — Darum muß
ich auch, so gern ich den wunderbar berauschenden Duft in dem Märchen:
der blonde Eckbert anerkenne, der Ansicht des S. 2177 angeführten Recen¬
senten beipflichten: „es mangle ihm an der hinlänglichen Motivirung der Hand-
lungen und über dem Ganzen schwebe ein widriges Dunkel; selbst ein Macht¬
spruch aus dem Geisterreiche wäre erträglicher gewesen als dieser gänzliche
Mangel einer befriedigenden Aufklärung." Dieses Traumwesen liegt auch nicht
etwa im Charakter! des echten Märchens, welches vielmehr durchweg von sehr
erkennbaren handgreiflichen Motiven ausgeht.

§. 328. S. 2179. — Die beiden Schlegel. — Was bei sämmtlichen
Paragraphen anzuführen wäre, die gründliche Aufsuchung des Materials, ist
an diesem doppelt zu rühmen, weil namentlich Friedrich Schlegel seine Arbeiten
an alle möglichen Journale verzettelte, die heute kaum mehr auszutreiben sind, und
Keil es für die Einsicht in seinen Bildungsgang von der größten Wichtigkeit ist,
auch die erste Fassung seiner Ansicht kennen zu lernen. Daß Koberstein auch A. W.
Schlegels Kritiken ausführlich ^xcerpirt, würde manchem überflüssig erscheinen,
^ sie in der Böckingschen Ausgabe vorliegen; aber die gediegene Form der¬
selben ist ein heilsames Gegengewicht gegen die Paradoxien des jüngern Bru¬
ders. — Die Kritik Goethes von 1789 und 1790 gehört zum Besten, was
die deutsche Kritik überhaupt geleistet hat; freilich ist sie auch, wenn man
die durch den Einfluß der Schule hervorgerufenen Vorlesungen von 1802 und
1803 damit vergleicht, ein Beweis, daß für den wahren Kritiker noch etwas
anderes nöthig ist, als gründliche Einsicht. — Bei der vortrefflichen Recension
„Künstler" (S. 2182) Ware zu erwähnen gewesen, daß Schlegel sie später
^ehe in seine Kritiken aufnahm. — Die Recension der Hören ist nicht mehr
6anz unbefangen (S. 2186); was Schlegel von den „Episteln" und ramene-
^ den „Märchen" sagt, würde Schlegel als unabhängiger Kritiker kaum ge-
^ge haben. — Was die Kritik des Voßischen Homer betrifft (S. 2189), so
stimme ich Koberstein vollständig bei, sie ist mustergültig: aber er hätte hinzu-


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[0395] ein Bild, eine Empfindung in die andere übergeht. Es soll damit gar nicht geleugnet werden, daß es solche Menschen giebt, noch viel weniger soll behaup¬ tet werden, daß Tieck in moralisch schlechter Absicht solche Bilder entworfen habe; seine Unfähigkeit, wirkliche Gestalten zu schaffen, verbunden mit seinem großen Talent, Stimmungen auszumalen, hat jene Bilder hervorgebracht, die auf ihre Freunde und Verehrer eine sittlich entnervende Wirkung haben mu߬ ten. Wenn man gegen die Moralisten des vorigen Jahrhunderts declamirt, so vergißt man dabei, daß das Gewissen, auch künstlerisch betrachtet, ein integ- rirender Theil der Person ist, und daß man durch die Ausscheidung desselben die Person in einen Schemen verwandelt. Mit Recht verachtet man Eulalia Meinau, aber was ist denn Lovell anders? Der große Unterschied der Bil¬ dung und des Geschmacks ändert an der Hauptsache nichts. — Darum muß ich auch, so gern ich den wunderbar berauschenden Duft in dem Märchen: der blonde Eckbert anerkenne, der Ansicht des S. 2177 angeführten Recen¬ senten beipflichten: „es mangle ihm an der hinlänglichen Motivirung der Hand- lungen und über dem Ganzen schwebe ein widriges Dunkel; selbst ein Macht¬ spruch aus dem Geisterreiche wäre erträglicher gewesen als dieser gänzliche Mangel einer befriedigenden Aufklärung." Dieses Traumwesen liegt auch nicht etwa im Charakter! des echten Märchens, welches vielmehr durchweg von sehr erkennbaren handgreiflichen Motiven ausgeht. §. 328. S. 2179. — Die beiden Schlegel. — Was bei sämmtlichen Paragraphen anzuführen wäre, die gründliche Aufsuchung des Materials, ist an diesem doppelt zu rühmen, weil namentlich Friedrich Schlegel seine Arbeiten an alle möglichen Journale verzettelte, die heute kaum mehr auszutreiben sind, und Keil es für die Einsicht in seinen Bildungsgang von der größten Wichtigkeit ist, auch die erste Fassung seiner Ansicht kennen zu lernen. Daß Koberstein auch A. W. Schlegels Kritiken ausführlich ^xcerpirt, würde manchem überflüssig erscheinen, ^ sie in der Böckingschen Ausgabe vorliegen; aber die gediegene Form der¬ selben ist ein heilsames Gegengewicht gegen die Paradoxien des jüngern Bru¬ ders. — Die Kritik Goethes von 1789 und 1790 gehört zum Besten, was die deutsche Kritik überhaupt geleistet hat; freilich ist sie auch, wenn man die durch den Einfluß der Schule hervorgerufenen Vorlesungen von 1802 und 1803 damit vergleicht, ein Beweis, daß für den wahren Kritiker noch etwas anderes nöthig ist, als gründliche Einsicht. — Bei der vortrefflichen Recension „Künstler" (S. 2182) Ware zu erwähnen gewesen, daß Schlegel sie später ^ehe in seine Kritiken aufnahm. — Die Recension der Hören ist nicht mehr 6anz unbefangen (S. 2186); was Schlegel von den „Episteln" und ramene- ^ den „Märchen" sagt, würde Schlegel als unabhängiger Kritiker kaum ge- ^ge haben. — Was die Kritik des Voßischen Homer betrifft (S. 2189), so stimme ich Koberstein vollständig bei, sie ist mustergültig: aber er hätte hinzu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/395>, abgerufen am 24.08.2024.