Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ihn offenbar äußerst langweilte. -- Wenn Schiller (S. 2042) von dem schlech¬
ten Absatz der Propyläen sagte: es habe ihm noch nichts einen so niederträch¬
tigen Begriff vom deutschen Publikum gegeben, so werden wir heute wol an¬
ders darüber urtheilen. -- In demselben Paragraph sind Goethes lyrische Ge¬
dichte aus dieser Periode besprochen; über eins derselben, den deutschen Par¬
naß, hätte ich noch eine Auskunft gewünscht. Die ironische Beziehung des¬
selben ist urkundlich beglaubigt und auch nothwendig, wenn man Goethes
Stimmung von 1798 in Anschlag bringt;- dabei ist aber die Behandlung so
ausführlich und treuherzig, daß man irre wird. Entweder hat Goethe ein
früheres Gedicht, welches einer andern Stimmung angehörte, der neuen an¬
bequemt, oder es ist ihm gegangen wie öfters, daß seine epische, realistische,
positive Natur das ursprünglich ironisch Gemeinte ernsthaft ausführte.

§. 322--3. S. 2046. Wallenstein. -- Der Briefwechsel jener Periode
wird sehr vollständig excerpirt: es ist merkwürdig, wie wenig uns das
über den innern Gang von Schillers poetischen Ueberzeugungen aufklärt. So
ausführlich wir die Geschichte des Stücks erfahren, so würden wir doch viel
mehr daraus lernen, wenn uns der Entwurf des Stücks, bevor Schiller an
die Ausführung der Liebesepisode ging, vorläge. Koberstein findet an einer
Stelle in Schillers dramatischer Entwickelung vom Wallenstein ein stetiges
Fortschreiten vom Idealismus zum Realismus; in gewissem Sinne könnte man
auch das Gegentheil behaupten; das Nichtige aber ist, daß er in einem beständi¬
gen Schwanken blieb.^ Jene Episode ist an sich so schön, daß man sie schwer¬
lich wegwünschen möchte, und doch ist sie mit allen ihren Verzweigungen dem
eigentlichen Inhalt des Stückes eben so fremd, als die ideale Auffassung
des Wilhelm Meister dem ursprünglich realistischen Plan. Die Heftigkeit,
mit "welcher der Dichter Körners letztes Urtheil aufnahm, verräth eine gewisse
Unsicherheit, und in der That kann man im Wallenstein drei verschiedene Mo¬
tive unterscheiden: erstens das eingeborne und jetzt durch künstlerische Ueber¬
zeugung befestigte Talent, sachgemäß, objectiv, realistisch zu schildern. Zwei¬
tens die angeborne Neigung seinen eignen Gefühlen einen lyrischen Aus¬
druck zu geben. Drittens die hauptsächlich aus dem Studium der Griechen
erworbene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den Stoff in eine höhere
Sphäre des Gedankens zu idealisiren. Diese drei Motive kreuzten sich häufig'
seine Ungeduld, als Körner eins derselben ausschließlich hervorhob, ist zu be¬
greifen; aber wenn er ihm eine vermeintliche geschlossene Ueberzeugung ent¬
gegensetzt, so ist das ein Irrthum. -- Die Vorliebe Schillers für die Oper'
und seine Ansicht, daß der Liebesepisode die Herrschaft im Stück gebühre, be¬
zeichnet Koberstein S. 20V2 und S 2071 ganz richtig als etwas Verkehrtes,
aber jene Aeußerungen sind wichtig, auch für Schillers späteres Schaffen. So
schlecht die damalige und heutige Beschaffenheit der Oper ist, so bringt sie


ihn offenbar äußerst langweilte. — Wenn Schiller (S. 2042) von dem schlech¬
ten Absatz der Propyläen sagte: es habe ihm noch nichts einen so niederträch¬
tigen Begriff vom deutschen Publikum gegeben, so werden wir heute wol an¬
ders darüber urtheilen. — In demselben Paragraph sind Goethes lyrische Ge¬
dichte aus dieser Periode besprochen; über eins derselben, den deutschen Par¬
naß, hätte ich noch eine Auskunft gewünscht. Die ironische Beziehung des¬
selben ist urkundlich beglaubigt und auch nothwendig, wenn man Goethes
Stimmung von 1798 in Anschlag bringt;- dabei ist aber die Behandlung so
ausführlich und treuherzig, daß man irre wird. Entweder hat Goethe ein
früheres Gedicht, welches einer andern Stimmung angehörte, der neuen an¬
bequemt, oder es ist ihm gegangen wie öfters, daß seine epische, realistische,
positive Natur das ursprünglich ironisch Gemeinte ernsthaft ausführte.

§. 322—3. S. 2046. Wallenstein. — Der Briefwechsel jener Periode
wird sehr vollständig excerpirt: es ist merkwürdig, wie wenig uns das
über den innern Gang von Schillers poetischen Ueberzeugungen aufklärt. So
ausführlich wir die Geschichte des Stücks erfahren, so würden wir doch viel
mehr daraus lernen, wenn uns der Entwurf des Stücks, bevor Schiller an
die Ausführung der Liebesepisode ging, vorläge. Koberstein findet an einer
Stelle in Schillers dramatischer Entwickelung vom Wallenstein ein stetiges
Fortschreiten vom Idealismus zum Realismus; in gewissem Sinne könnte man
auch das Gegentheil behaupten; das Nichtige aber ist, daß er in einem beständi¬
gen Schwanken blieb.^ Jene Episode ist an sich so schön, daß man sie schwer¬
lich wegwünschen möchte, und doch ist sie mit allen ihren Verzweigungen dem
eigentlichen Inhalt des Stückes eben so fremd, als die ideale Auffassung
des Wilhelm Meister dem ursprünglich realistischen Plan. Die Heftigkeit,
mit "welcher der Dichter Körners letztes Urtheil aufnahm, verräth eine gewisse
Unsicherheit, und in der That kann man im Wallenstein drei verschiedene Mo¬
tive unterscheiden: erstens das eingeborne und jetzt durch künstlerische Ueber¬
zeugung befestigte Talent, sachgemäß, objectiv, realistisch zu schildern. Zwei¬
tens die angeborne Neigung seinen eignen Gefühlen einen lyrischen Aus¬
druck zu geben. Drittens die hauptsächlich aus dem Studium der Griechen
erworbene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den Stoff in eine höhere
Sphäre des Gedankens zu idealisiren. Diese drei Motive kreuzten sich häufig'
seine Ungeduld, als Körner eins derselben ausschließlich hervorhob, ist zu be¬
greifen; aber wenn er ihm eine vermeintliche geschlossene Ueberzeugung ent¬
gegensetzt, so ist das ein Irrthum. — Die Vorliebe Schillers für die Oper'
und seine Ansicht, daß der Liebesepisode die Herrschaft im Stück gebühre, be¬
zeichnet Koberstein S. 20V2 und S 2071 ganz richtig als etwas Verkehrtes,
aber jene Aeußerungen sind wichtig, auch für Schillers späteres Schaffen. So
schlecht die damalige und heutige Beschaffenheit der Oper ist, so bringt sie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0388" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108518"/>
          <p xml:id="ID_1242" prev="#ID_1241"> ihn offenbar äußerst langweilte. &#x2014; Wenn Schiller (S. 2042) von dem schlech¬<lb/>
ten Absatz der Propyläen sagte: es habe ihm noch nichts einen so niederträch¬<lb/>
tigen Begriff vom deutschen Publikum gegeben, so werden wir heute wol an¬<lb/>
ders darüber urtheilen. &#x2014; In demselben Paragraph sind Goethes lyrische Ge¬<lb/>
dichte aus dieser Periode besprochen; über eins derselben, den deutschen Par¬<lb/>
naß, hätte ich noch eine Auskunft gewünscht. Die ironische Beziehung des¬<lb/>
selben ist urkundlich beglaubigt und auch nothwendig, wenn man Goethes<lb/>
Stimmung von 1798 in Anschlag bringt;- dabei ist aber die Behandlung so<lb/>
ausführlich und treuherzig, daß man irre wird. Entweder hat Goethe ein<lb/>
früheres Gedicht, welches einer andern Stimmung angehörte, der neuen an¬<lb/>
bequemt, oder es ist ihm gegangen wie öfters, daß seine epische, realistische,<lb/>
positive Natur das ursprünglich ironisch Gemeinte ernsthaft ausführte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1243" next="#ID_1244"> §. 322&#x2014;3. S. 2046. Wallenstein. &#x2014; Der Briefwechsel jener Periode<lb/>
wird sehr vollständig excerpirt: es ist merkwürdig, wie wenig uns das<lb/>
über den innern Gang von Schillers poetischen Ueberzeugungen aufklärt. So<lb/>
ausführlich wir die Geschichte des Stücks erfahren, so würden wir doch viel<lb/>
mehr daraus lernen, wenn uns der Entwurf des Stücks, bevor Schiller an<lb/>
die Ausführung der Liebesepisode ging, vorläge. Koberstein findet an einer<lb/>
Stelle in Schillers dramatischer Entwickelung vom Wallenstein ein stetiges<lb/>
Fortschreiten vom Idealismus zum Realismus; in gewissem Sinne könnte man<lb/>
auch das Gegentheil behaupten; das Nichtige aber ist, daß er in einem beständi¬<lb/>
gen Schwanken blieb.^ Jene Episode ist an sich so schön, daß man sie schwer¬<lb/>
lich wegwünschen möchte, und doch ist sie mit allen ihren Verzweigungen dem<lb/>
eigentlichen Inhalt des Stückes eben so fremd, als die ideale Auffassung<lb/>
des Wilhelm Meister dem ursprünglich realistischen Plan. Die Heftigkeit,<lb/>
mit "welcher der Dichter Körners letztes Urtheil aufnahm, verräth eine gewisse<lb/>
Unsicherheit, und in der That kann man im Wallenstein drei verschiedene Mo¬<lb/>
tive unterscheiden: erstens das eingeborne und jetzt durch künstlerische Ueber¬<lb/>
zeugung befestigte Talent, sachgemäß, objectiv, realistisch zu schildern. Zwei¬<lb/>
tens die angeborne Neigung seinen eignen Gefühlen einen lyrischen Aus¬<lb/>
druck zu geben. Drittens die hauptsächlich aus dem Studium der Griechen<lb/>
erworbene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den Stoff in eine höhere<lb/>
Sphäre des Gedankens zu idealisiren. Diese drei Motive kreuzten sich häufig'<lb/>
seine Ungeduld, als Körner eins derselben ausschließlich hervorhob, ist zu be¬<lb/>
greifen; aber wenn er ihm eine vermeintliche geschlossene Ueberzeugung ent¬<lb/>
gegensetzt, so ist das ein Irrthum. &#x2014; Die Vorliebe Schillers für die Oper'<lb/>
und seine Ansicht, daß der Liebesepisode die Herrschaft im Stück gebühre, be¬<lb/>
zeichnet Koberstein S. 20V2 und S 2071 ganz richtig als etwas Verkehrtes,<lb/>
aber jene Aeußerungen sind wichtig, auch für Schillers späteres Schaffen. So<lb/>
schlecht die damalige und heutige Beschaffenheit der Oper ist, so bringt sie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0388] ihn offenbar äußerst langweilte. — Wenn Schiller (S. 2042) von dem schlech¬ ten Absatz der Propyläen sagte: es habe ihm noch nichts einen so niederträch¬ tigen Begriff vom deutschen Publikum gegeben, so werden wir heute wol an¬ ders darüber urtheilen. — In demselben Paragraph sind Goethes lyrische Ge¬ dichte aus dieser Periode besprochen; über eins derselben, den deutschen Par¬ naß, hätte ich noch eine Auskunft gewünscht. Die ironische Beziehung des¬ selben ist urkundlich beglaubigt und auch nothwendig, wenn man Goethes Stimmung von 1798 in Anschlag bringt;- dabei ist aber die Behandlung so ausführlich und treuherzig, daß man irre wird. Entweder hat Goethe ein früheres Gedicht, welches einer andern Stimmung angehörte, der neuen an¬ bequemt, oder es ist ihm gegangen wie öfters, daß seine epische, realistische, positive Natur das ursprünglich ironisch Gemeinte ernsthaft ausführte. §. 322—3. S. 2046. Wallenstein. — Der Briefwechsel jener Periode wird sehr vollständig excerpirt: es ist merkwürdig, wie wenig uns das über den innern Gang von Schillers poetischen Ueberzeugungen aufklärt. So ausführlich wir die Geschichte des Stücks erfahren, so würden wir doch viel mehr daraus lernen, wenn uns der Entwurf des Stücks, bevor Schiller an die Ausführung der Liebesepisode ging, vorläge. Koberstein findet an einer Stelle in Schillers dramatischer Entwickelung vom Wallenstein ein stetiges Fortschreiten vom Idealismus zum Realismus; in gewissem Sinne könnte man auch das Gegentheil behaupten; das Nichtige aber ist, daß er in einem beständi¬ gen Schwanken blieb.^ Jene Episode ist an sich so schön, daß man sie schwer¬ lich wegwünschen möchte, und doch ist sie mit allen ihren Verzweigungen dem eigentlichen Inhalt des Stückes eben so fremd, als die ideale Auffassung des Wilhelm Meister dem ursprünglich realistischen Plan. Die Heftigkeit, mit "welcher der Dichter Körners letztes Urtheil aufnahm, verräth eine gewisse Unsicherheit, und in der That kann man im Wallenstein drei verschiedene Mo¬ tive unterscheiden: erstens das eingeborne und jetzt durch künstlerische Ueber¬ zeugung befestigte Talent, sachgemäß, objectiv, realistisch zu schildern. Zwei¬ tens die angeborne Neigung seinen eignen Gefühlen einen lyrischen Aus¬ druck zu geben. Drittens die hauptsächlich aus dem Studium der Griechen erworbene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den Stoff in eine höhere Sphäre des Gedankens zu idealisiren. Diese drei Motive kreuzten sich häufig' seine Ungeduld, als Körner eins derselben ausschließlich hervorhob, ist zu be¬ greifen; aber wenn er ihm eine vermeintliche geschlossene Ueberzeugung ent¬ gegensetzt, so ist das ein Irrthum. — Die Vorliebe Schillers für die Oper' und seine Ansicht, daß der Liebesepisode die Herrschaft im Stück gebühre, be¬ zeichnet Koberstein S. 20V2 und S 2071 ganz richtig als etwas Verkehrtes, aber jene Aeußerungen sind wichtig, auch für Schillers späteres Schaffen. So schlecht die damalige und heutige Beschaffenheit der Oper ist, so bringt sie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/388
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/388>, abgerufen am 24.08.2024.