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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Christenthum. -- Daß der Zauberlehrling auf die Amel-Xenien Bezug haben
soll (S. 2013), scheint mir auf einem Mißverständniß zu beruhen.

§ 321. S. 2014. Wilhelm Meister. Hermann und Dorothea. --
Wenn Koberstein S. 2016 Schillers Briefe über den Wilhelm Meister mit
das Ausgezeichnetste nennt, was unsre Literatur im Fach der kritischen Literatur
aufweist, so kann ich dieser Meinung nicht beipflichten. subjectiv sind sie
freilich vom höchsten Intresse, denn sie zeigen Schillers Charakter im schönsten
Licht; diese neidlose, seelenvolle, überquellende Hingebung an ein fremdes
Kunstwerk wird sich schwerlich bei einem andern Dichter finden. Aber die
Begeisterung ist doch zum Theil daraus zu erklären, daß Schillers angeborne
poetische Natur, die schon lange im Stillen gegen seine philosophischen Be¬
schäftigungen reagirt hatte, durch die Anschauung dieses schönen Werks zu
freudigem Leben erweckt wurde. Eine Kritik ist es ebenso wenig, als die Re¬
cension über Matthisson, und konnte es auch nicht sein, da Schiller immer nur
das Einzelne auf sich wirken lassen mußte. Jede Kritik ist ihrem Wesen nach
analytisch, und von Analyse ist in diesen Briefen keine Spur. Schiller hat
doch die ursprünglich ganz individuelle Anlage des Romans in einer Weise
idealisirt, die mir Riemers sonderbare Aeußerung. S. 2019, begreiflich macht.
Goethe fühlte sich natürlich durch die Begeisterung seines Freundes sehr ge¬
hoben, und die Anforderungen desselben blieben nicht ohne Einfluß auf sein
Schaffen; ob dieser Einfluß in den letzten Theilen des Romans durchweg ein
guter war, möchte ich bezweifeln; in Goethes letzten Briefen finde ich wirklich
eine gelinde Spur von Ungeduld, jener Ungeduld, die aus dem Widerspruch
der innersten Natur mit dem neu erworbenen Ideal hervorgeht. Herders Ur¬
theil ist wenigstens insofern von Interesse, als es zeigt, daß bei ihm.^wie
bei Goethe, zwischen dem Beginn und dem Schluß des Romans eine tiefe
Kluft lag. Bei beiden war die Bildungsatmosphäre eine andre geworden,
und wäre Meister im ersten Wurf vollendet, so wäre die künstlerische Einheit
eine größere geworden, so wie der erste Eindruck auf Herder ein günstigerer
K>ar. -- Uebrigens hat Schiller, als er den Hermann gelesen, seine Ansicht
über den Meister wesentlich modificirt, wenn er sich auch seine Gründe nicht
sanz klar machte. Er fand den Hermann poetischer wegen des Metrums,
Elches doch im Meister keine Anwendung finden konnte; der eigentliche Grund
^>ar wol die einheitliche Haltung des Epos. -- Ueber Hermann und Doro¬
thea ist unendlich viel geschrieben, aber die Beziehungen auf Luise, auf
^circle, Alexis und Dora sind noch zu erörtern; es würde sich dadurch auch
^ne gerechtere Würdigung der Voßischen Idyllen herausstellen, die man jetzt
^ber Gebühr hinteren setzt. -- Humboldts Kritik hat wol nicht wenig dazu
^'getragen, Schiller, der in seinem Briefwechsel mit Goethe viel mehr gelernt
hatte, woraus es ankam, ganz der philosophischen Kritik zu entfremden, weil sie


Christenthum. — Daß der Zauberlehrling auf die Amel-Xenien Bezug haben
soll (S. 2013), scheint mir auf einem Mißverständniß zu beruhen.

§ 321. S. 2014. Wilhelm Meister. Hermann und Dorothea. —
Wenn Koberstein S. 2016 Schillers Briefe über den Wilhelm Meister mit
das Ausgezeichnetste nennt, was unsre Literatur im Fach der kritischen Literatur
aufweist, so kann ich dieser Meinung nicht beipflichten. subjectiv sind sie
freilich vom höchsten Intresse, denn sie zeigen Schillers Charakter im schönsten
Licht; diese neidlose, seelenvolle, überquellende Hingebung an ein fremdes
Kunstwerk wird sich schwerlich bei einem andern Dichter finden. Aber die
Begeisterung ist doch zum Theil daraus zu erklären, daß Schillers angeborne
poetische Natur, die schon lange im Stillen gegen seine philosophischen Be¬
schäftigungen reagirt hatte, durch die Anschauung dieses schönen Werks zu
freudigem Leben erweckt wurde. Eine Kritik ist es ebenso wenig, als die Re¬
cension über Matthisson, und konnte es auch nicht sein, da Schiller immer nur
das Einzelne auf sich wirken lassen mußte. Jede Kritik ist ihrem Wesen nach
analytisch, und von Analyse ist in diesen Briefen keine Spur. Schiller hat
doch die ursprünglich ganz individuelle Anlage des Romans in einer Weise
idealisirt, die mir Riemers sonderbare Aeußerung. S. 2019, begreiflich macht.
Goethe fühlte sich natürlich durch die Begeisterung seines Freundes sehr ge¬
hoben, und die Anforderungen desselben blieben nicht ohne Einfluß auf sein
Schaffen; ob dieser Einfluß in den letzten Theilen des Romans durchweg ein
guter war, möchte ich bezweifeln; in Goethes letzten Briefen finde ich wirklich
eine gelinde Spur von Ungeduld, jener Ungeduld, die aus dem Widerspruch
der innersten Natur mit dem neu erworbenen Ideal hervorgeht. Herders Ur¬
theil ist wenigstens insofern von Interesse, als es zeigt, daß bei ihm.^wie
bei Goethe, zwischen dem Beginn und dem Schluß des Romans eine tiefe
Kluft lag. Bei beiden war die Bildungsatmosphäre eine andre geworden,
und wäre Meister im ersten Wurf vollendet, so wäre die künstlerische Einheit
eine größere geworden, so wie der erste Eindruck auf Herder ein günstigerer
K>ar. — Uebrigens hat Schiller, als er den Hermann gelesen, seine Ansicht
über den Meister wesentlich modificirt, wenn er sich auch seine Gründe nicht
sanz klar machte. Er fand den Hermann poetischer wegen des Metrums,
Elches doch im Meister keine Anwendung finden konnte; der eigentliche Grund
^>ar wol die einheitliche Haltung des Epos. — Ueber Hermann und Doro¬
thea ist unendlich viel geschrieben, aber die Beziehungen auf Luise, auf
^circle, Alexis und Dora sind noch zu erörtern; es würde sich dadurch auch
^ne gerechtere Würdigung der Voßischen Idyllen herausstellen, die man jetzt
^ber Gebühr hinteren setzt. — Humboldts Kritik hat wol nicht wenig dazu
^'getragen, Schiller, der in seinem Briefwechsel mit Goethe viel mehr gelernt
hatte, woraus es ankam, ganz der philosophischen Kritik zu entfremden, weil sie


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[0387] Christenthum. — Daß der Zauberlehrling auf die Amel-Xenien Bezug haben soll (S. 2013), scheint mir auf einem Mißverständniß zu beruhen. § 321. S. 2014. Wilhelm Meister. Hermann und Dorothea. — Wenn Koberstein S. 2016 Schillers Briefe über den Wilhelm Meister mit das Ausgezeichnetste nennt, was unsre Literatur im Fach der kritischen Literatur aufweist, so kann ich dieser Meinung nicht beipflichten. subjectiv sind sie freilich vom höchsten Intresse, denn sie zeigen Schillers Charakter im schönsten Licht; diese neidlose, seelenvolle, überquellende Hingebung an ein fremdes Kunstwerk wird sich schwerlich bei einem andern Dichter finden. Aber die Begeisterung ist doch zum Theil daraus zu erklären, daß Schillers angeborne poetische Natur, die schon lange im Stillen gegen seine philosophischen Be¬ schäftigungen reagirt hatte, durch die Anschauung dieses schönen Werks zu freudigem Leben erweckt wurde. Eine Kritik ist es ebenso wenig, als die Re¬ cension über Matthisson, und konnte es auch nicht sein, da Schiller immer nur das Einzelne auf sich wirken lassen mußte. Jede Kritik ist ihrem Wesen nach analytisch, und von Analyse ist in diesen Briefen keine Spur. Schiller hat doch die ursprünglich ganz individuelle Anlage des Romans in einer Weise idealisirt, die mir Riemers sonderbare Aeußerung. S. 2019, begreiflich macht. Goethe fühlte sich natürlich durch die Begeisterung seines Freundes sehr ge¬ hoben, und die Anforderungen desselben blieben nicht ohne Einfluß auf sein Schaffen; ob dieser Einfluß in den letzten Theilen des Romans durchweg ein guter war, möchte ich bezweifeln; in Goethes letzten Briefen finde ich wirklich eine gelinde Spur von Ungeduld, jener Ungeduld, die aus dem Widerspruch der innersten Natur mit dem neu erworbenen Ideal hervorgeht. Herders Ur¬ theil ist wenigstens insofern von Interesse, als es zeigt, daß bei ihm.^wie bei Goethe, zwischen dem Beginn und dem Schluß des Romans eine tiefe Kluft lag. Bei beiden war die Bildungsatmosphäre eine andre geworden, und wäre Meister im ersten Wurf vollendet, so wäre die künstlerische Einheit eine größere geworden, so wie der erste Eindruck auf Herder ein günstigerer K>ar. — Uebrigens hat Schiller, als er den Hermann gelesen, seine Ansicht über den Meister wesentlich modificirt, wenn er sich auch seine Gründe nicht sanz klar machte. Er fand den Hermann poetischer wegen des Metrums, Elches doch im Meister keine Anwendung finden konnte; der eigentliche Grund ^>ar wol die einheitliche Haltung des Epos. — Ueber Hermann und Doro¬ thea ist unendlich viel geschrieben, aber die Beziehungen auf Luise, auf ^circle, Alexis und Dora sind noch zu erörtern; es würde sich dadurch auch ^ne gerechtere Würdigung der Voßischen Idyllen herausstellen, die man jetzt ^ber Gebühr hinteren setzt. — Humboldts Kritik hat wol nicht wenig dazu ^'getragen, Schiller, der in seinem Briefwechsel mit Goethe viel mehr gelernt hatte, woraus es ankam, ganz der philosophischen Kritik zu entfremden, weil sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/387>, abgerufen am 24.08.2024.