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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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nicht blos auf die einzelnen Notizen, sondern auch auf die allgemeinen Be¬
hauptungen, von denen jede einzelne eine Fülle von Studien in sich schließt.
Für ein wissenschaftliches Studium der Literatur ist das Werk unentbehrlich.

Die rein objektive Haltung des Buchs wird durch das milde und be¬
sonnene Urtheil des Verfassers möglich gemacht. Mit einer, man möchte
sagen, jugendlichen Wärme für die großen und schönen Leistungen unsrer klas¬
sischen Periode verbindet Koberstein eine streng rechtliche Gesinnung, die auch
bei den Gegnern seiner Helden die positiven Motive hervorsucht; er wägt sehr
genau nach allen Seiten ab, was ihn freilich mitunter zu weit führt, denn
bei dem unausgesetzten, fast ängstlichen Limitiren des Urtheils sieht zuweilen
das Facit geringer aus, als es ist. Aber eine Folge davon ist zugleich, daß
man jedes Urtheil von ihm, ja jede leise Andeutung desselben sehr wohl er¬
wägen muß, ehe man ihm widerspricht, da es nicht aus einer subjectiven
Grille, sondern durchweg aus umfassenden Wissen hervorgeht.

Es mag demnach gewagt erscheinen, wenn ich, in Bezug auf die vor¬
liegenden Hefte, einen prinzipiellen Widerspruch erheben muß; indeß das Ge¬
wagte mag sich selber rechtfertigen.

Der Widerspruch bezieht sich hauptsächlich auf die Leistungen und den
Einfluß der sogenannten romantischen Schule. Diese Schule, welche ein
Menschenalter hindurch die deutsche Literatur beherrscht hat, ist seitdem gleich¬
sam die bLW-noire unserer Kritik geworden; man hat ihr nicht blos die eig-
' neu Sünden vorgehalten, sondern ihr alle Sünden aufgebürdet, die in der
deutschen Literatur begangen sind. Daß dies eine Reaction hervorruft, nament¬
lich bei den ältern Pflegern und Freunden der Literatur, die in den roman¬
tischen Traditionen aufgewachsen sind, ist sehr begreiflich. Wer in den erste"
Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufwuchs, und seine Ideale nach dieser
Seite hin suchte, wird schon durch die Pietät an eine Richtung gefesselt, deren
wohlthätige Wirkungen er, nach seinem Gefühl an sich selbst erprobt hat. Der
subjektiven Färbung des Urtheils (und auch das eifrigste Streben, objektiv zu
sein, wird diese Färbung nicht ganz beseitigen) gestehe ich eine sehr weite
Berechtigung zu; aber ich finde, daß auch objektiv betrachtet, Koberstein das,
was die Schule geleistet, zu hoch anschlägt, das, was sie geschadet, zu wenig
hervorhebt. Hie und da angedeutet ist freilich fast Alles, aber zur Wahrheit
des Urtheils gehört eine richtige Architektonik desselben.

Indem ich meine Abweichungen -- in allem Uebrigen stimme ich urit
Koberstein überein -- in die einzelnen Paragraphen vertheile, soll zugleich
durch die Inhaltsangabe derselben dem Leser ein Dienst geschehn.

§ J18. S. 1965: Goethe und Schiller 1 7 94. -- Aus dem Brief
Schillers an Jakobi, worin er die Tendenz der Hören rechtfertigt, wird S-
1969 die Stelle: "Es sei das Vorrecht des Dichters, wie des Philosophen,


nicht blos auf die einzelnen Notizen, sondern auch auf die allgemeinen Be¬
hauptungen, von denen jede einzelne eine Fülle von Studien in sich schließt.
Für ein wissenschaftliches Studium der Literatur ist das Werk unentbehrlich.

Die rein objektive Haltung des Buchs wird durch das milde und be¬
sonnene Urtheil des Verfassers möglich gemacht. Mit einer, man möchte
sagen, jugendlichen Wärme für die großen und schönen Leistungen unsrer klas¬
sischen Periode verbindet Koberstein eine streng rechtliche Gesinnung, die auch
bei den Gegnern seiner Helden die positiven Motive hervorsucht; er wägt sehr
genau nach allen Seiten ab, was ihn freilich mitunter zu weit führt, denn
bei dem unausgesetzten, fast ängstlichen Limitiren des Urtheils sieht zuweilen
das Facit geringer aus, als es ist. Aber eine Folge davon ist zugleich, daß
man jedes Urtheil von ihm, ja jede leise Andeutung desselben sehr wohl er¬
wägen muß, ehe man ihm widerspricht, da es nicht aus einer subjectiven
Grille, sondern durchweg aus umfassenden Wissen hervorgeht.

Es mag demnach gewagt erscheinen, wenn ich, in Bezug auf die vor¬
liegenden Hefte, einen prinzipiellen Widerspruch erheben muß; indeß das Ge¬
wagte mag sich selber rechtfertigen.

Der Widerspruch bezieht sich hauptsächlich auf die Leistungen und den
Einfluß der sogenannten romantischen Schule. Diese Schule, welche ein
Menschenalter hindurch die deutsche Literatur beherrscht hat, ist seitdem gleich¬
sam die bLW-noire unserer Kritik geworden; man hat ihr nicht blos die eig-
' neu Sünden vorgehalten, sondern ihr alle Sünden aufgebürdet, die in der
deutschen Literatur begangen sind. Daß dies eine Reaction hervorruft, nament¬
lich bei den ältern Pflegern und Freunden der Literatur, die in den roman¬
tischen Traditionen aufgewachsen sind, ist sehr begreiflich. Wer in den erste»
Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufwuchs, und seine Ideale nach dieser
Seite hin suchte, wird schon durch die Pietät an eine Richtung gefesselt, deren
wohlthätige Wirkungen er, nach seinem Gefühl an sich selbst erprobt hat. Der
subjektiven Färbung des Urtheils (und auch das eifrigste Streben, objektiv zu
sein, wird diese Färbung nicht ganz beseitigen) gestehe ich eine sehr weite
Berechtigung zu; aber ich finde, daß auch objektiv betrachtet, Koberstein das,
was die Schule geleistet, zu hoch anschlägt, das, was sie geschadet, zu wenig
hervorhebt. Hie und da angedeutet ist freilich fast Alles, aber zur Wahrheit
des Urtheils gehört eine richtige Architektonik desselben.

Indem ich meine Abweichungen — in allem Uebrigen stimme ich urit
Koberstein überein — in die einzelnen Paragraphen vertheile, soll zugleich
durch die Inhaltsangabe derselben dem Leser ein Dienst geschehn.

§ J18. S. 1965: Goethe und Schiller 1 7 94. — Aus dem Brief
Schillers an Jakobi, worin er die Tendenz der Hören rechtfertigt, wird S-
1969 die Stelle: „Es sei das Vorrecht des Dichters, wie des Philosophen,


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[0384] nicht blos auf die einzelnen Notizen, sondern auch auf die allgemeinen Be¬ hauptungen, von denen jede einzelne eine Fülle von Studien in sich schließt. Für ein wissenschaftliches Studium der Literatur ist das Werk unentbehrlich. Die rein objektive Haltung des Buchs wird durch das milde und be¬ sonnene Urtheil des Verfassers möglich gemacht. Mit einer, man möchte sagen, jugendlichen Wärme für die großen und schönen Leistungen unsrer klas¬ sischen Periode verbindet Koberstein eine streng rechtliche Gesinnung, die auch bei den Gegnern seiner Helden die positiven Motive hervorsucht; er wägt sehr genau nach allen Seiten ab, was ihn freilich mitunter zu weit führt, denn bei dem unausgesetzten, fast ängstlichen Limitiren des Urtheils sieht zuweilen das Facit geringer aus, als es ist. Aber eine Folge davon ist zugleich, daß man jedes Urtheil von ihm, ja jede leise Andeutung desselben sehr wohl er¬ wägen muß, ehe man ihm widerspricht, da es nicht aus einer subjectiven Grille, sondern durchweg aus umfassenden Wissen hervorgeht. Es mag demnach gewagt erscheinen, wenn ich, in Bezug auf die vor¬ liegenden Hefte, einen prinzipiellen Widerspruch erheben muß; indeß das Ge¬ wagte mag sich selber rechtfertigen. Der Widerspruch bezieht sich hauptsächlich auf die Leistungen und den Einfluß der sogenannten romantischen Schule. Diese Schule, welche ein Menschenalter hindurch die deutsche Literatur beherrscht hat, ist seitdem gleich¬ sam die bLW-noire unserer Kritik geworden; man hat ihr nicht blos die eig- ' neu Sünden vorgehalten, sondern ihr alle Sünden aufgebürdet, die in der deutschen Literatur begangen sind. Daß dies eine Reaction hervorruft, nament¬ lich bei den ältern Pflegern und Freunden der Literatur, die in den roman¬ tischen Traditionen aufgewachsen sind, ist sehr begreiflich. Wer in den erste» Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufwuchs, und seine Ideale nach dieser Seite hin suchte, wird schon durch die Pietät an eine Richtung gefesselt, deren wohlthätige Wirkungen er, nach seinem Gefühl an sich selbst erprobt hat. Der subjektiven Färbung des Urtheils (und auch das eifrigste Streben, objektiv zu sein, wird diese Färbung nicht ganz beseitigen) gestehe ich eine sehr weite Berechtigung zu; aber ich finde, daß auch objektiv betrachtet, Koberstein das, was die Schule geleistet, zu hoch anschlägt, das, was sie geschadet, zu wenig hervorhebt. Hie und da angedeutet ist freilich fast Alles, aber zur Wahrheit des Urtheils gehört eine richtige Architektonik desselben. Indem ich meine Abweichungen — in allem Uebrigen stimme ich urit Koberstein überein — in die einzelnen Paragraphen vertheile, soll zugleich durch die Inhaltsangabe derselben dem Leser ein Dienst geschehn. § J18. S. 1965: Goethe und Schiller 1 7 94. — Aus dem Brief Schillers an Jakobi, worin er die Tendenz der Hören rechtfertigt, wird S- 1969 die Stelle: „Es sei das Vorrecht des Dichters, wie des Philosophen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/384>, abgerufen am 24.08.2024.