Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Der 10. November 1859.

Was Schiller war, wird heute so vielseitig erörtert werden, daß wir unsre
Aufmerksamkeit auf eine andre Frage richten: was bedeutet für uns das
heutige Fest? Die Feier eines großen Todten gilt immer den Lebendigen, sie
ehren sich selber, sie sprechen ihre eignen Bedürfnisse und ihren eignen Be¬
sitzstand aus. Schiller ist ein großer Dichter, dem nie Ehre genug angethan
werden kann, aber die Aufregung, die heute wie ein elektrischer Funken
über den gesammten Erdkreis zuckt, muß doch noch einen andern Sinn haben.

Zunächst feiern wir in Schiller den Vertreter unsres goldenen Zeitalters,
jenes Zeitalters, welches die griechische Einheit von Denken und Empfinden
durch Kunst und Philosophie wieder herzustellen trachtete. Bon diesem all¬
gemeinen Streben ist keiner unsrer Dichter so tief durchdrungen gewesen als
schillernder zwischen Kant und Goethe vermittelt, dessen philosophische Stu¬
dien der Kunst gedient haben und dessen Poesie die Welt der Ideen verkör¬
pert hat. Dieses goldne Zeitalter ist nur scheinbar ein vergangenes. Man
ist zuweilen daran irre geworden: in unserm Dichten und Trachten nimmt die
Politik einen breiten Raum ein, die materiellen Interessen haben einen ge¬
deihlichem Boden gefunden, in der Religion hat man andere Pfade gesucht.
Es ist aber ein ganz falsches Vorurtheil, als ob ein großes geistiges Interesse
das andre verdrängen müßte, im Gegentheil fordert jedes aufrichtige, hin¬
gebende Streben nach einer bestimmten Seite hin, das verwandte Streben
nach der andern, und wir, die wir all crdings mit Staatsrecht, Gemeindeord-
Uung, mit den positiven Wissenschaften und mit der materiellen Seite des
Lebens viel mehr zu thun haben als unsre Großväter, wir hegen zugleich
"ut einer viel wärmern Andacht die Schätze einer schönen Vergangenheit.
Nie unendlich seit den letzten sechzig Jahren die Theilnahme für Schiller und


Grenzlivtcn IV. 1859. 31
Der 10. November 1859.

Was Schiller war, wird heute so vielseitig erörtert werden, daß wir unsre
Aufmerksamkeit auf eine andre Frage richten: was bedeutet für uns das
heutige Fest? Die Feier eines großen Todten gilt immer den Lebendigen, sie
ehren sich selber, sie sprechen ihre eignen Bedürfnisse und ihren eignen Be¬
sitzstand aus. Schiller ist ein großer Dichter, dem nie Ehre genug angethan
werden kann, aber die Aufregung, die heute wie ein elektrischer Funken
über den gesammten Erdkreis zuckt, muß doch noch einen andern Sinn haben.

Zunächst feiern wir in Schiller den Vertreter unsres goldenen Zeitalters,
jenes Zeitalters, welches die griechische Einheit von Denken und Empfinden
durch Kunst und Philosophie wieder herzustellen trachtete. Bon diesem all¬
gemeinen Streben ist keiner unsrer Dichter so tief durchdrungen gewesen als
schillernder zwischen Kant und Goethe vermittelt, dessen philosophische Stu¬
dien der Kunst gedient haben und dessen Poesie die Welt der Ideen verkör¬
pert hat. Dieses goldne Zeitalter ist nur scheinbar ein vergangenes. Man
ist zuweilen daran irre geworden: in unserm Dichten und Trachten nimmt die
Politik einen breiten Raum ein, die materiellen Interessen haben einen ge¬
deihlichem Boden gefunden, in der Religion hat man andere Pfade gesucht.
Es ist aber ein ganz falsches Vorurtheil, als ob ein großes geistiges Interesse
das andre verdrängen müßte, im Gegentheil fordert jedes aufrichtige, hin¬
gebende Streben nach einer bestimmten Seite hin, das verwandte Streben
nach der andern, und wir, die wir all crdings mit Staatsrecht, Gemeindeord-
Uung, mit den positiven Wissenschaften und mit der materiellen Seite des
Lebens viel mehr zu thun haben als unsre Großväter, wir hegen zugleich
"ut einer viel wärmern Andacht die Schätze einer schönen Vergangenheit.
Nie unendlich seit den letzten sechzig Jahren die Theilnahme für Schiller und


Grenzlivtcn IV. 1859. 31
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0253" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108383"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der 10. November 1859.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_870"> Was Schiller war, wird heute so vielseitig erörtert werden, daß wir unsre<lb/>
Aufmerksamkeit auf eine andre Frage richten: was bedeutet für uns das<lb/>
heutige Fest? Die Feier eines großen Todten gilt immer den Lebendigen, sie<lb/>
ehren sich selber, sie sprechen ihre eignen Bedürfnisse und ihren eignen Be¬<lb/>
sitzstand aus. Schiller ist ein großer Dichter, dem nie Ehre genug angethan<lb/>
werden kann, aber die Aufregung, die heute wie ein elektrischer Funken<lb/>
über den gesammten Erdkreis zuckt, muß doch noch einen andern Sinn haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_871" next="#ID_872"> Zunächst feiern wir in Schiller den Vertreter unsres goldenen Zeitalters,<lb/>
jenes Zeitalters, welches die griechische Einheit von Denken und Empfinden<lb/>
durch Kunst und Philosophie wieder herzustellen trachtete. Bon diesem all¬<lb/>
gemeinen Streben ist keiner unsrer Dichter so tief durchdrungen gewesen als<lb/>
schillernder zwischen Kant und Goethe vermittelt, dessen philosophische Stu¬<lb/>
dien der Kunst gedient haben und dessen Poesie die Welt der Ideen verkör¬<lb/>
pert hat. Dieses goldne Zeitalter ist nur scheinbar ein vergangenes. Man<lb/>
ist zuweilen daran irre geworden: in unserm Dichten und Trachten nimmt die<lb/>
Politik einen breiten Raum ein, die materiellen Interessen haben einen ge¬<lb/>
deihlichem Boden gefunden, in der Religion hat man andere Pfade gesucht.<lb/>
Es ist aber ein ganz falsches Vorurtheil, als ob ein großes geistiges Interesse<lb/>
das andre verdrängen müßte, im Gegentheil fordert jedes aufrichtige, hin¬<lb/>
gebende Streben nach einer bestimmten Seite hin, das verwandte Streben<lb/>
nach der andern, und wir, die wir all crdings mit Staatsrecht, Gemeindeord-<lb/>
Uung, mit den positiven Wissenschaften und mit der materiellen Seite des<lb/>
Lebens viel mehr zu thun haben als unsre Großväter, wir hegen zugleich<lb/>
"ut einer viel wärmern Andacht die Schätze einer schönen Vergangenheit.<lb/>
Nie unendlich seit den letzten sechzig Jahren die Theilnahme für Schiller und</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzlivtcn IV. 1859. 31</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0253] Der 10. November 1859. Was Schiller war, wird heute so vielseitig erörtert werden, daß wir unsre Aufmerksamkeit auf eine andre Frage richten: was bedeutet für uns das heutige Fest? Die Feier eines großen Todten gilt immer den Lebendigen, sie ehren sich selber, sie sprechen ihre eignen Bedürfnisse und ihren eignen Be¬ sitzstand aus. Schiller ist ein großer Dichter, dem nie Ehre genug angethan werden kann, aber die Aufregung, die heute wie ein elektrischer Funken über den gesammten Erdkreis zuckt, muß doch noch einen andern Sinn haben. Zunächst feiern wir in Schiller den Vertreter unsres goldenen Zeitalters, jenes Zeitalters, welches die griechische Einheit von Denken und Empfinden durch Kunst und Philosophie wieder herzustellen trachtete. Bon diesem all¬ gemeinen Streben ist keiner unsrer Dichter so tief durchdrungen gewesen als schillernder zwischen Kant und Goethe vermittelt, dessen philosophische Stu¬ dien der Kunst gedient haben und dessen Poesie die Welt der Ideen verkör¬ pert hat. Dieses goldne Zeitalter ist nur scheinbar ein vergangenes. Man ist zuweilen daran irre geworden: in unserm Dichten und Trachten nimmt die Politik einen breiten Raum ein, die materiellen Interessen haben einen ge¬ deihlichem Boden gefunden, in der Religion hat man andere Pfade gesucht. Es ist aber ein ganz falsches Vorurtheil, als ob ein großes geistiges Interesse das andre verdrängen müßte, im Gegentheil fordert jedes aufrichtige, hin¬ gebende Streben nach einer bestimmten Seite hin, das verwandte Streben nach der andern, und wir, die wir all crdings mit Staatsrecht, Gemeindeord- Uung, mit den positiven Wissenschaften und mit der materiellen Seite des Lebens viel mehr zu thun haben als unsre Großväter, wir hegen zugleich "ut einer viel wärmern Andacht die Schätze einer schönen Vergangenheit. Nie unendlich seit den letzten sechzig Jahren die Theilnahme für Schiller und Grenzlivtcn IV. 1859. 31

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/253
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/253>, abgerufen am 28.09.2024.