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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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so drückt sich die Gemeinsamkeit der Kirche hauptsächlich im Cultus aus. Sich
des Cultus anzunehmen wäre seiner allgemeinen Richtung nach die Haupt¬
aufgabe des Rationalismus gewesen, aber hier konnte er grade am wenigsten
leisten, weil er über die Phantasie keine Macht hatte.

Dieser Uebelstand liegt aber nicht ausschließlich im Rationalismus, die
gesammte protestantische Kirche hat darunter zu leiden, und vielleicht in der
altpuritanischen Form noch mehr als in dem modernen Kirchenwesen, das den
Sinnen doch einige Concessionen macht. Wenn in sittlicher Beziehung, in der
Jneinanderbildung des Heiligen und des Weltlichen, die Reformation durchaus
°M segenbringendes Ereigniß war. so ist nicht zu leugnen, daß sie dafür ästhe¬
tisch manche Opfer gebracht hat. In sittlicher Beziehung hat sie die Tren¬
nung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht aufgehoben, sie hat
die Grundlage alles sittlichen Lebens, die Familie, auch dem Priesterstand
geöffnet, sie hat sich in den Staat auf eine Weise eingelebt, daß eine Tren¬
nung, wie man sie zuweilen aus doctrinären Gründen anstrebt, schwer, ja
Unmöglich fallen möchte. Aber in anderm Sinn ist die Kirche dem Volk
wieder fremder geworden, hauptsächlich durch die Aufhebung der Beichte und
der Messe, durch die Einschränkung der Festtage und der Sacramente. Die
Neffe öffnete dem individuellen Bedürfniß täglich die Kirche, der Einzelne ging
bwein. so oft er ein Bedürfniß fühlte. Bei uns stellt man sich dem Herrn
"ur im Sonntagsputz dar. man ist in der Kirche nicht mehr zu Hause, sondern
stritt sie nur in erhöhter Stimmung. In der Ohrenbeichte trug man die
Oheime Geschichte seines Herzens dem Vertreter Gottes vor und gab ihr da-
^es eine nicht geringe Wichtigkeit; bei uns hat die Beichte einen ganz all-
^Meinen abstracten Charakter: in der Vorbereitung auf das Versöhnungsmahl
^kennt man seine Sündhaftigkeit im Allgemeinen, wobei sich im Grunde nicht
Bestimmtes denken läßt/

In der alten Kirche wurde fast jede wichtige Handlung des Lebens zur
^else des Sacraments erhoben, das Wunder umgab den Menschen täglich,
^ ^ar zu Hause in dieser Wunderwelt. Die Reformation hat nur eins von
°^sen Sacramenten stehn lassen, an dem man sich wirklich betheiligt, das
^endmahl. und dieses ist so isolirt und der Lutherische Katechismus hat es
l° unbestimmt gelassen, wo eigentlich das Wunder anfängt, daß es schwer fällt,
^ in die richtige Stimmung zu versetzen. Der consequcntere Calvinismus,
^ in dem Abendmahl nur ein Erinnerungsfest feiert und das Wunder ganz
^ 'ugt. ist Beziehung der erste Schritt zur rationalistischen Auffassung
Religion. Und wie mit den Sacramenten, so ist es auch mit den Festen;
^ ^ Katholiken, namentlich in den südlichen Ländern, werden die Feste zur
z^°l)üben, bei uns weiß man sich grade ihrer Seltenheit wegen nicht darein
""den, und wo man sich bemüht, einen größern Ernst hineinzulegen, wie


so drückt sich die Gemeinsamkeit der Kirche hauptsächlich im Cultus aus. Sich
des Cultus anzunehmen wäre seiner allgemeinen Richtung nach die Haupt¬
aufgabe des Rationalismus gewesen, aber hier konnte er grade am wenigsten
leisten, weil er über die Phantasie keine Macht hatte.

Dieser Uebelstand liegt aber nicht ausschließlich im Rationalismus, die
gesammte protestantische Kirche hat darunter zu leiden, und vielleicht in der
altpuritanischen Form noch mehr als in dem modernen Kirchenwesen, das den
Sinnen doch einige Concessionen macht. Wenn in sittlicher Beziehung, in der
Jneinanderbildung des Heiligen und des Weltlichen, die Reformation durchaus
°M segenbringendes Ereigniß war. so ist nicht zu leugnen, daß sie dafür ästhe¬
tisch manche Opfer gebracht hat. In sittlicher Beziehung hat sie die Tren¬
nung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht aufgehoben, sie hat
die Grundlage alles sittlichen Lebens, die Familie, auch dem Priesterstand
geöffnet, sie hat sich in den Staat auf eine Weise eingelebt, daß eine Tren¬
nung, wie man sie zuweilen aus doctrinären Gründen anstrebt, schwer, ja
Unmöglich fallen möchte. Aber in anderm Sinn ist die Kirche dem Volk
wieder fremder geworden, hauptsächlich durch die Aufhebung der Beichte und
der Messe, durch die Einschränkung der Festtage und der Sacramente. Die
Neffe öffnete dem individuellen Bedürfniß täglich die Kirche, der Einzelne ging
bwein. so oft er ein Bedürfniß fühlte. Bei uns stellt man sich dem Herrn
"ur im Sonntagsputz dar. man ist in der Kirche nicht mehr zu Hause, sondern
stritt sie nur in erhöhter Stimmung. In der Ohrenbeichte trug man die
Oheime Geschichte seines Herzens dem Vertreter Gottes vor und gab ihr da-
^es eine nicht geringe Wichtigkeit; bei uns hat die Beichte einen ganz all-
^Meinen abstracten Charakter: in der Vorbereitung auf das Versöhnungsmahl
^kennt man seine Sündhaftigkeit im Allgemeinen, wobei sich im Grunde nicht
Bestimmtes denken läßt/

In der alten Kirche wurde fast jede wichtige Handlung des Lebens zur
^else des Sacraments erhoben, das Wunder umgab den Menschen täglich,
^ ^ar zu Hause in dieser Wunderwelt. Die Reformation hat nur eins von
°^sen Sacramenten stehn lassen, an dem man sich wirklich betheiligt, das
^endmahl. und dieses ist so isolirt und der Lutherische Katechismus hat es
l° unbestimmt gelassen, wo eigentlich das Wunder anfängt, daß es schwer fällt,
^ in die richtige Stimmung zu versetzen. Der consequcntere Calvinismus,
^ in dem Abendmahl nur ein Erinnerungsfest feiert und das Wunder ganz
^ 'ugt. ist Beziehung der erste Schritt zur rationalistischen Auffassung
Religion. Und wie mit den Sacramenten, so ist es auch mit den Festen;
^ ^ Katholiken, namentlich in den südlichen Ländern, werden die Feste zur
z^°l)üben, bei uns weiß man sich grade ihrer Seltenheit wegen nicht darein
""den, und wo man sich bemüht, einen größern Ernst hineinzulegen, wie


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[0147] so drückt sich die Gemeinsamkeit der Kirche hauptsächlich im Cultus aus. Sich des Cultus anzunehmen wäre seiner allgemeinen Richtung nach die Haupt¬ aufgabe des Rationalismus gewesen, aber hier konnte er grade am wenigsten leisten, weil er über die Phantasie keine Macht hatte. Dieser Uebelstand liegt aber nicht ausschließlich im Rationalismus, die gesammte protestantische Kirche hat darunter zu leiden, und vielleicht in der altpuritanischen Form noch mehr als in dem modernen Kirchenwesen, das den Sinnen doch einige Concessionen macht. Wenn in sittlicher Beziehung, in der Jneinanderbildung des Heiligen und des Weltlichen, die Reformation durchaus °M segenbringendes Ereigniß war. so ist nicht zu leugnen, daß sie dafür ästhe¬ tisch manche Opfer gebracht hat. In sittlicher Beziehung hat sie die Tren¬ nung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht aufgehoben, sie hat die Grundlage alles sittlichen Lebens, die Familie, auch dem Priesterstand geöffnet, sie hat sich in den Staat auf eine Weise eingelebt, daß eine Tren¬ nung, wie man sie zuweilen aus doctrinären Gründen anstrebt, schwer, ja Unmöglich fallen möchte. Aber in anderm Sinn ist die Kirche dem Volk wieder fremder geworden, hauptsächlich durch die Aufhebung der Beichte und der Messe, durch die Einschränkung der Festtage und der Sacramente. Die Neffe öffnete dem individuellen Bedürfniß täglich die Kirche, der Einzelne ging bwein. so oft er ein Bedürfniß fühlte. Bei uns stellt man sich dem Herrn "ur im Sonntagsputz dar. man ist in der Kirche nicht mehr zu Hause, sondern stritt sie nur in erhöhter Stimmung. In der Ohrenbeichte trug man die Oheime Geschichte seines Herzens dem Vertreter Gottes vor und gab ihr da- ^es eine nicht geringe Wichtigkeit; bei uns hat die Beichte einen ganz all- ^Meinen abstracten Charakter: in der Vorbereitung auf das Versöhnungsmahl ^kennt man seine Sündhaftigkeit im Allgemeinen, wobei sich im Grunde nicht Bestimmtes denken läßt/ In der alten Kirche wurde fast jede wichtige Handlung des Lebens zur ^else des Sacraments erhoben, das Wunder umgab den Menschen täglich, ^ ^ar zu Hause in dieser Wunderwelt. Die Reformation hat nur eins von °^sen Sacramenten stehn lassen, an dem man sich wirklich betheiligt, das ^endmahl. und dieses ist so isolirt und der Lutherische Katechismus hat es l° unbestimmt gelassen, wo eigentlich das Wunder anfängt, daß es schwer fällt, ^ in die richtige Stimmung zu versetzen. Der consequcntere Calvinismus, ^ in dem Abendmahl nur ein Erinnerungsfest feiert und das Wunder ganz ^ 'ugt. ist Beziehung der erste Schritt zur rationalistischen Auffassung Religion. Und wie mit den Sacramenten, so ist es auch mit den Festen; ^ ^ Katholiken, namentlich in den südlichen Ländern, werden die Feste zur z^°l)üben, bei uns weiß man sich grade ihrer Seltenheit wegen nicht darein ""den, und wo man sich bemüht, einen größern Ernst hineinzulegen, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/147>, abgerufen am 26.08.2024.