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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Wenn man im Anfang von der Ansicht ausging, die ganze Bibel sei
vom heiligen Geist dictirt. so mußte man doch bald einzelne, wenn auch nur
kleine Irrungen bemerken, die man unmöglich dem heiligen Geist zuschreiben,
deren Schuld man vielmehr dem irdischen Verstand des Schreibers aufbürden
wußte. Man mußte unterscheiden, was echt und was unecht war, d. h. was
wirklich vom heiligen Geist herrührte und was von dem Schreiber aus eignen
Kräften hinzugesetzt war. Auch dabei konnte man nicht stehn bleiben. Viele, ja
die meisten von den Geschichten, die in den Evangelien erzählt werden, rühren,
wenigstens der Form nach, von Augenzeugen her: hier hätte sich also der
heilige Geist eine unfruchtbare Mühe gegeben, wenn er dem Schreiber hätte
selbst dictiren sollen, was dieser mit eingesehn. Sobald man es aber nicht
wehr mit dem heiligen Geist zu thun hatte, mußte man die Glaubwürdig¬
keit der heiligen Schriftsteller, ihre Einsicht und ihr Verständniß ebenso prüfen
Wie bei einem weltlichen Chronisten: werden doch in der Bibel selbst den
wichste" Jüngern des Herrn zuweilen recht starke Vorwürfe gemacht. Wenn
wan also auch das Factum der Offenbarung als feststehend betrachtete, so
sah man sich doch genöthigt zu untersuchen, wie weit die Berichterstatter ge¬
eignet waren, diese Offenbarung zu fassen und wiederzugeben. Auch das war
noch nicht das Letzte. Denn man erinnerte sich, daß die Offenbarung in einer
bestimmten historischen Zeit vorgefallen war, die in intellectueller und sittlicher
Bildung noch keineswegs aus der Höhe der unsrigen stand, die im Gegentheil
>was in die ärgsten Vorurtheile verstrickt war. Wenn sich nun, fuhr man
weiter fort, Gott in seiner Offenbarung dieser Zeit verständlich machen wollte,
w mußte er sich in der Sprache derselben ausdrücken, mit andern Worten:
^ mußte an ihre Vorurtheile anknüpfen. Hier war nun ein breiter Spielraum
Kewvnnen für die Untersuchung, was von dem Inhalt der Offenbarung als
ewig und unabänderlich gemeint war, und was sich nur aus die Voraussetzungen
der damaligen Juden bezog. Hätte sich, dachte man im Stillen, Gott uns
offenbart, so würde er sich viel offner und unbefangner haben ausdrücken
können, während er unter diesen Umständen genöthigt war, sich der bildlichen
^ob symbolischen Redeweise zu bedienen. So ergänzte man denn die Lehren
Evangeliums nach dem Maß des gebildeten Bewußtseins unsrer Zeit --
^ob welches Maß hätte man auch sonst anwenden können?

Wenn diese Bemühungen mitunter einen fast komischen Eindruck machen,
^ kann man doch nicht leugnen, daß hier eine Logik der Thatsachen vorliegt,
aus der sich kein Glied wegbringen läßt. Nun war noch ein Schritt übrig,
der von Kant gethan wurde, mit einer Entschiedenheit, die nichts zu wünschen
übrigläßt: er ließ das Factum der Offenbarung dahingestellt sein, behauptete
^er. daß der Inhalt derselben in allen Theilen von der menschlichen Vernunft
geprüft, und daß erst nach dieser Prüfung festgestellt werden müsse, was davon


Wenn man im Anfang von der Ansicht ausging, die ganze Bibel sei
vom heiligen Geist dictirt. so mußte man doch bald einzelne, wenn auch nur
kleine Irrungen bemerken, die man unmöglich dem heiligen Geist zuschreiben,
deren Schuld man vielmehr dem irdischen Verstand des Schreibers aufbürden
wußte. Man mußte unterscheiden, was echt und was unecht war, d. h. was
wirklich vom heiligen Geist herrührte und was von dem Schreiber aus eignen
Kräften hinzugesetzt war. Auch dabei konnte man nicht stehn bleiben. Viele, ja
die meisten von den Geschichten, die in den Evangelien erzählt werden, rühren,
wenigstens der Form nach, von Augenzeugen her: hier hätte sich also der
heilige Geist eine unfruchtbare Mühe gegeben, wenn er dem Schreiber hätte
selbst dictiren sollen, was dieser mit eingesehn. Sobald man es aber nicht
wehr mit dem heiligen Geist zu thun hatte, mußte man die Glaubwürdig¬
keit der heiligen Schriftsteller, ihre Einsicht und ihr Verständniß ebenso prüfen
Wie bei einem weltlichen Chronisten: werden doch in der Bibel selbst den
wichste» Jüngern des Herrn zuweilen recht starke Vorwürfe gemacht. Wenn
wan also auch das Factum der Offenbarung als feststehend betrachtete, so
sah man sich doch genöthigt zu untersuchen, wie weit die Berichterstatter ge¬
eignet waren, diese Offenbarung zu fassen und wiederzugeben. Auch das war
noch nicht das Letzte. Denn man erinnerte sich, daß die Offenbarung in einer
bestimmten historischen Zeit vorgefallen war, die in intellectueller und sittlicher
Bildung noch keineswegs aus der Höhe der unsrigen stand, die im Gegentheil
>was in die ärgsten Vorurtheile verstrickt war. Wenn sich nun, fuhr man
weiter fort, Gott in seiner Offenbarung dieser Zeit verständlich machen wollte,
w mußte er sich in der Sprache derselben ausdrücken, mit andern Worten:
^ mußte an ihre Vorurtheile anknüpfen. Hier war nun ein breiter Spielraum
Kewvnnen für die Untersuchung, was von dem Inhalt der Offenbarung als
ewig und unabänderlich gemeint war, und was sich nur aus die Voraussetzungen
der damaligen Juden bezog. Hätte sich, dachte man im Stillen, Gott uns
offenbart, so würde er sich viel offner und unbefangner haben ausdrücken
können, während er unter diesen Umständen genöthigt war, sich der bildlichen
^ob symbolischen Redeweise zu bedienen. So ergänzte man denn die Lehren
Evangeliums nach dem Maß des gebildeten Bewußtseins unsrer Zeit —
^ob welches Maß hätte man auch sonst anwenden können?

Wenn diese Bemühungen mitunter einen fast komischen Eindruck machen,
^ kann man doch nicht leugnen, daß hier eine Logik der Thatsachen vorliegt,
aus der sich kein Glied wegbringen läßt. Nun war noch ein Schritt übrig,
der von Kant gethan wurde, mit einer Entschiedenheit, die nichts zu wünschen
übrigläßt: er ließ das Factum der Offenbarung dahingestellt sein, behauptete
^er. daß der Inhalt derselben in allen Theilen von der menschlichen Vernunft
geprüft, und daß erst nach dieser Prüfung festgestellt werden müsse, was davon


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[0139] Wenn man im Anfang von der Ansicht ausging, die ganze Bibel sei vom heiligen Geist dictirt. so mußte man doch bald einzelne, wenn auch nur kleine Irrungen bemerken, die man unmöglich dem heiligen Geist zuschreiben, deren Schuld man vielmehr dem irdischen Verstand des Schreibers aufbürden wußte. Man mußte unterscheiden, was echt und was unecht war, d. h. was wirklich vom heiligen Geist herrührte und was von dem Schreiber aus eignen Kräften hinzugesetzt war. Auch dabei konnte man nicht stehn bleiben. Viele, ja die meisten von den Geschichten, die in den Evangelien erzählt werden, rühren, wenigstens der Form nach, von Augenzeugen her: hier hätte sich also der heilige Geist eine unfruchtbare Mühe gegeben, wenn er dem Schreiber hätte selbst dictiren sollen, was dieser mit eingesehn. Sobald man es aber nicht wehr mit dem heiligen Geist zu thun hatte, mußte man die Glaubwürdig¬ keit der heiligen Schriftsteller, ihre Einsicht und ihr Verständniß ebenso prüfen Wie bei einem weltlichen Chronisten: werden doch in der Bibel selbst den wichste» Jüngern des Herrn zuweilen recht starke Vorwürfe gemacht. Wenn wan also auch das Factum der Offenbarung als feststehend betrachtete, so sah man sich doch genöthigt zu untersuchen, wie weit die Berichterstatter ge¬ eignet waren, diese Offenbarung zu fassen und wiederzugeben. Auch das war noch nicht das Letzte. Denn man erinnerte sich, daß die Offenbarung in einer bestimmten historischen Zeit vorgefallen war, die in intellectueller und sittlicher Bildung noch keineswegs aus der Höhe der unsrigen stand, die im Gegentheil >was in die ärgsten Vorurtheile verstrickt war. Wenn sich nun, fuhr man weiter fort, Gott in seiner Offenbarung dieser Zeit verständlich machen wollte, w mußte er sich in der Sprache derselben ausdrücken, mit andern Worten: ^ mußte an ihre Vorurtheile anknüpfen. Hier war nun ein breiter Spielraum Kewvnnen für die Untersuchung, was von dem Inhalt der Offenbarung als ewig und unabänderlich gemeint war, und was sich nur aus die Voraussetzungen der damaligen Juden bezog. Hätte sich, dachte man im Stillen, Gott uns offenbart, so würde er sich viel offner und unbefangner haben ausdrücken können, während er unter diesen Umständen genöthigt war, sich der bildlichen ^ob symbolischen Redeweise zu bedienen. So ergänzte man denn die Lehren Evangeliums nach dem Maß des gebildeten Bewußtseins unsrer Zeit — ^ob welches Maß hätte man auch sonst anwenden können? Wenn diese Bemühungen mitunter einen fast komischen Eindruck machen, ^ kann man doch nicht leugnen, daß hier eine Logik der Thatsachen vorliegt, aus der sich kein Glied wegbringen läßt. Nun war noch ein Schritt übrig, der von Kant gethan wurde, mit einer Entschiedenheit, die nichts zu wünschen übrigläßt: er ließ das Factum der Offenbarung dahingestellt sein, behauptete ^er. daß der Inhalt derselben in allen Theilen von der menschlichen Vernunft geprüft, und daß erst nach dieser Prüfung festgestellt werden müsse, was davon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/139>, abgerufen am 25.08.2024.