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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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weit ihm das auf den verschiednen Gebieten der Seele gelingt. Zuerst auf
dem Gebiet der reinen Vernunft.

Obgleich die Vernunft als universelle Macht auf die Stimmungen und
Leidenschaften, die immer individueller Natur sind, keinen unmittelbaren Ein¬
fluß auszuüben scheint, so gibt es doch Zeiten, wo auch sie sich zur Leiden¬
schaft steigert und die Führung der Geschichte übernimmt. Wenn auch Jahr¬
hunderte lang ihre Ansprüche so weit zurücktreten, daß sich der Menge ein
gewisser Haß der Vernunft bemächtigt, so wirkt sie doch im Stillen fort,^bis
in einer plötzlichen Explosion der Geist der Zeit seine Richtung verändert und
seine bisherige Form von sich abstreift. Wenn in einer solchen Umwälzungs¬
periode keine Hoffnung vorhanden ist. die Ansprüche der Vernunft innerhalb
der bestehenden Religion zu befriedigen, so wendet sie ihre zerstörende Kraft
gegen dieselbe, wie es zum Theil schon im Zeitalter Macchiavellis in Italien,
in viel höherm Grade durch-die Encyklopädisten in Frankreich geschah. Durch
die Reformation war nun in Deutschland der Weg gebahnt, innerhalb der
Theologie selbst den Bedenken der Vernunft Gehör zu verschaffen, und was
in der katholischen Kirche als Rebellion gegen das Christenthum aufgefaßt
wurde, als Christenpflicht, ja als Beruf des Gotteslehrers auszuüben.

Wenn auch Luther seinem Glaubenssystem nach nicht im Geringsten mit
dem modernen Nationalismus verwandt ist, so hat er ihn doch vorbereitet,
indem er, um eine Stütze gegen das Papstthum zu finden, der traditionellen,
d. h. wirklichen Kirche, das Bild einer idealen, ursprünglichen, entgegen¬
gesetzte und für die Rechtfertigung der letztern ausschließlich die heilige Schrift
gelten ließ. Daß zwischen dem Inhalt der Bibel und zwischen dem Inhalt
der Kirche, wie sie sich in der von ihm für kanonisch gehaltenen Zeit. d. h.
im vierten Jahrhundert sixirt hatte, ein sehr erheblicher Unterschied stattfand,
mochte er nicht zugeben, und wenn er den Gottesgelehrten wie den Laien die
Pflicht auferlegte, fleißig in der Bibel zu forschen, so war er fest überzeugt,
daß dadurch die Lehren des Katechismus nur immer tiefer begründet und be¬
festigt werden mühten. Doch konnte bald, auch bei der größten Hingebung
an die Kirche, die Wahrnehmung nicht ausbleiben, daß manche Punkte des
Bekenntnisses in der Bibel entweder gar nicht vorkämen, oder wenigstens so
unbestimmt ausgedrückt, daß erne andere Auslegung möglich sei. und so mußte
schon das Bedürfniß einer kirchlichen Vertiefung darauf führen, nach dem in¬
nern Zusammenhang der biblischen Geschichte zu forschen. mit'andern Worten
an sie den Maßstab der historischen Kritik zu legen.

Das Bedenkliche eines solchen Unternehmens hatten die Priester der alten
Kirche sehr wohl begriffen und den Laien das Lesen der heiligen Schrift ent¬
weder ganz untersagt, oder es wenigstens nur in der von der Kirche fest'
gestellten Auslegung erlaubt,


weit ihm das auf den verschiednen Gebieten der Seele gelingt. Zuerst auf
dem Gebiet der reinen Vernunft.

Obgleich die Vernunft als universelle Macht auf die Stimmungen und
Leidenschaften, die immer individueller Natur sind, keinen unmittelbaren Ein¬
fluß auszuüben scheint, so gibt es doch Zeiten, wo auch sie sich zur Leiden¬
schaft steigert und die Führung der Geschichte übernimmt. Wenn auch Jahr¬
hunderte lang ihre Ansprüche so weit zurücktreten, daß sich der Menge ein
gewisser Haß der Vernunft bemächtigt, so wirkt sie doch im Stillen fort,^bis
in einer plötzlichen Explosion der Geist der Zeit seine Richtung verändert und
seine bisherige Form von sich abstreift. Wenn in einer solchen Umwälzungs¬
periode keine Hoffnung vorhanden ist. die Ansprüche der Vernunft innerhalb
der bestehenden Religion zu befriedigen, so wendet sie ihre zerstörende Kraft
gegen dieselbe, wie es zum Theil schon im Zeitalter Macchiavellis in Italien,
in viel höherm Grade durch-die Encyklopädisten in Frankreich geschah. Durch
die Reformation war nun in Deutschland der Weg gebahnt, innerhalb der
Theologie selbst den Bedenken der Vernunft Gehör zu verschaffen, und was
in der katholischen Kirche als Rebellion gegen das Christenthum aufgefaßt
wurde, als Christenpflicht, ja als Beruf des Gotteslehrers auszuüben.

Wenn auch Luther seinem Glaubenssystem nach nicht im Geringsten mit
dem modernen Nationalismus verwandt ist, so hat er ihn doch vorbereitet,
indem er, um eine Stütze gegen das Papstthum zu finden, der traditionellen,
d. h. wirklichen Kirche, das Bild einer idealen, ursprünglichen, entgegen¬
gesetzte und für die Rechtfertigung der letztern ausschließlich die heilige Schrift
gelten ließ. Daß zwischen dem Inhalt der Bibel und zwischen dem Inhalt
der Kirche, wie sie sich in der von ihm für kanonisch gehaltenen Zeit. d. h.
im vierten Jahrhundert sixirt hatte, ein sehr erheblicher Unterschied stattfand,
mochte er nicht zugeben, und wenn er den Gottesgelehrten wie den Laien die
Pflicht auferlegte, fleißig in der Bibel zu forschen, so war er fest überzeugt,
daß dadurch die Lehren des Katechismus nur immer tiefer begründet und be¬
festigt werden mühten. Doch konnte bald, auch bei der größten Hingebung
an die Kirche, die Wahrnehmung nicht ausbleiben, daß manche Punkte des
Bekenntnisses in der Bibel entweder gar nicht vorkämen, oder wenigstens so
unbestimmt ausgedrückt, daß erne andere Auslegung möglich sei. und so mußte
schon das Bedürfniß einer kirchlichen Vertiefung darauf führen, nach dem in¬
nern Zusammenhang der biblischen Geschichte zu forschen. mit'andern Worten
an sie den Maßstab der historischen Kritik zu legen.

Das Bedenkliche eines solchen Unternehmens hatten die Priester der alten
Kirche sehr wohl begriffen und den Laien das Lesen der heiligen Schrift ent¬
weder ganz untersagt, oder es wenigstens nur in der von der Kirche fest'
gestellten Auslegung erlaubt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/138>, abgerufen am 25.08.2024.