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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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ernstlich bemühten, die Dogmatik 'nach dem Maßstab ihrer Vernunft, so reif
"der unreif er war, auszulegen.

Will man zugleich gegen den Rationalismus und seine Gegner gerecht
sein, so muß man erwägen, daß er als historische Erscheinung nicht blos eine
theologische Form, sondern ein Denk- und Empsindungssystem enthält, welches
sich auf alle Kräfte der Seele, Verstand, Gefühl, Wille, Phantasie, gleichmäßig
^streckt, die einen mehr oder minder befriedigt und daher bei ihnen theils
ein freudiges Entgegenkommen, theils eine heftige Reaction hervorrief. Vor
dem Richterstuhl der theoretischen und praktischen Vernunft wird er den gün¬
stigsten Erfolg haben, dagegen das Gefühlsleben wenig in Anspruch nehmen
und der Phantasie sogar fortwährenden Anstoß geben. Gleichviel ob man
die Bedürfnisse, die er unbefriedigt läßt, für berechtigt hält oder nicht, sie sind
vorhanden und verlangen ihre Befriedigung mit der Gewalt einer Naturkraft.
Und grade die Religion ist dasjenige Gebiet, wo sich der Mensch mit seinen
Bedürfnissen nicht abweisen läßt. In der Wissenschaft und Kunst, im Recht med
un Stucitsleben erkennt er seine Grenzen an, in der Religion verlangt er das
Unbegrenzte. Eine Religionsform, die solchen Anliegen nur kalte Ablehnung
entgegensetzt, zeigt eben dadurch, daß sie einer wesentlichen Ergänzung bedarf,
wenn sie überhaupt fortdauern soll, und diese Probe hat auch der Rationa¬
lismus noch zu bestehn.

Die Feinde des Nationalismus, der von der Identität der Vernunft im Welt¬
ganzen ausgeht, sind in zwei entgegengesctztenlLagern zu suchen. Es sind dieSupra-
Uaturalisten und die Atheisten. Beide Parteien, so stark sie sich dem An¬
schein nach widersprechen, kommen doch in einem Hauptpunkt überein. Der
Supranaturalist. indem er die Ewigkeit und Ursprünglichkeit des Natur- und
des Sittengesetzes leugnet, macht dadurch das wirkliche Leben zu einem leeren,
'"haltlosen Traum, in dem das Licht der überirdischen Welt nur zuweilen blen¬
dend sich zeigt, wie das Leuchten eines fernen Gewitters. Die Welt ist ihm
Nur Erscheinung ohne ein Wesen, das zu ihr gehört; sie ist aus nichts ge¬
worden, sie fällt in nichts zurück, sie ist im Wesen nichts. Der Atheismus
Wid Materialismus kommt im Ganzen zu demselben Resultat: ihm ist zwar
die Erscheinungswelt als solche sammt ihren Gesetzen ewig, aber sie ist eben
"ur Erscheinung ohne Seele d. h. ein Räthsel ohne Sinn. Den Unterschied
wacht im Grunde nur die Stimmung; während der Supranaturalist in Seus-
und Wehklagen ausbricht über die Nichtigkeit dieser Welt, treibt der Atheist,
wenn er consequent ist, seinen Spott damit. Beiden tritt der Rationalismus
Mit dem ernsten puritanischen Bestreben, die Erscheinung überall an das
Rehen. den Geist an den Leib, Gott an die Welt, die Seele an ihre Be¬
stimmung anzuknüpfen, in gleicher Schärfe entgegen. Sehen wir nun, wie


ernstlich bemühten, die Dogmatik 'nach dem Maßstab ihrer Vernunft, so reif
"der unreif er war, auszulegen.

Will man zugleich gegen den Rationalismus und seine Gegner gerecht
sein, so muß man erwägen, daß er als historische Erscheinung nicht blos eine
theologische Form, sondern ein Denk- und Empsindungssystem enthält, welches
sich auf alle Kräfte der Seele, Verstand, Gefühl, Wille, Phantasie, gleichmäßig
^streckt, die einen mehr oder minder befriedigt und daher bei ihnen theils
ein freudiges Entgegenkommen, theils eine heftige Reaction hervorrief. Vor
dem Richterstuhl der theoretischen und praktischen Vernunft wird er den gün¬
stigsten Erfolg haben, dagegen das Gefühlsleben wenig in Anspruch nehmen
und der Phantasie sogar fortwährenden Anstoß geben. Gleichviel ob man
die Bedürfnisse, die er unbefriedigt läßt, für berechtigt hält oder nicht, sie sind
vorhanden und verlangen ihre Befriedigung mit der Gewalt einer Naturkraft.
Und grade die Religion ist dasjenige Gebiet, wo sich der Mensch mit seinen
Bedürfnissen nicht abweisen läßt. In der Wissenschaft und Kunst, im Recht med
un Stucitsleben erkennt er seine Grenzen an, in der Religion verlangt er das
Unbegrenzte. Eine Religionsform, die solchen Anliegen nur kalte Ablehnung
entgegensetzt, zeigt eben dadurch, daß sie einer wesentlichen Ergänzung bedarf,
wenn sie überhaupt fortdauern soll, und diese Probe hat auch der Rationa¬
lismus noch zu bestehn.

Die Feinde des Nationalismus, der von der Identität der Vernunft im Welt¬
ganzen ausgeht, sind in zwei entgegengesctztenlLagern zu suchen. Es sind dieSupra-
Uaturalisten und die Atheisten. Beide Parteien, so stark sie sich dem An¬
schein nach widersprechen, kommen doch in einem Hauptpunkt überein. Der
Supranaturalist. indem er die Ewigkeit und Ursprünglichkeit des Natur- und
des Sittengesetzes leugnet, macht dadurch das wirkliche Leben zu einem leeren,
'"haltlosen Traum, in dem das Licht der überirdischen Welt nur zuweilen blen¬
dend sich zeigt, wie das Leuchten eines fernen Gewitters. Die Welt ist ihm
Nur Erscheinung ohne ein Wesen, das zu ihr gehört; sie ist aus nichts ge¬
worden, sie fällt in nichts zurück, sie ist im Wesen nichts. Der Atheismus
Wid Materialismus kommt im Ganzen zu demselben Resultat: ihm ist zwar
die Erscheinungswelt als solche sammt ihren Gesetzen ewig, aber sie ist eben
"ur Erscheinung ohne Seele d. h. ein Räthsel ohne Sinn. Den Unterschied
wacht im Grunde nur die Stimmung; während der Supranaturalist in Seus-
und Wehklagen ausbricht über die Nichtigkeit dieser Welt, treibt der Atheist,
wenn er consequent ist, seinen Spott damit. Beiden tritt der Rationalismus
Mit dem ernsten puritanischen Bestreben, die Erscheinung überall an das
Rehen. den Geist an den Leib, Gott an die Welt, die Seele an ihre Be¬
stimmung anzuknüpfen, in gleicher Schärfe entgegen. Sehen wir nun, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/137>, abgerufen am 25.08.2024.