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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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strebenden Sittensprüche so, daß die Wunder wegfielen und daß die Sitten¬
sprüche etwas ganz Argloses sagen sollten, und kam in diesem Bemühen nicht
selten auf Trugschlüsse, die jedes Kind widerlegen kann. Kant dagegen be¬
hauptete nur, daß von der Bibel nur dasjenige verbindlich sein könne, was
Maximen für unser Handeln enthielte, und zwar solche, die unserm Gewissen
entsprächen. Er prüfte die Offenbarung an der Vernunft, und ohne weiter
über den Ursprung derselben zu grübeln, ließ er nur dasjenige gelten, was
durch die Vernunft bestätigt wurde.

Sodann wird die Haltung des historischen Nationalismus, die freilich
wie alles Justemilieu eine sehr undankbare war, durch seine zeitlichen Voraus¬
setzungen gerechtfertigt. Auf der einen Seite trat ihm die Lutherische Ortho¬
doxie entgegen, die mit der aufkeimenden Bildung ungefähr so viel Zusammen¬
hang hatte als der Buddhismus oder sonst ein ausländisches Religionssystem,
auf der andern Seite der französische Deismus (Voltaire), der sich zwar durch
den Glauben an Gott und an die Tugend sehr wesentlich von den Materia¬
listen jener Zeit unterschied, der aber in seinem Haß gegen das Christenthum
ebenso weit ging als diese. Freilich hatten die Franzosen unter dem Joch
der Jesuiten schwer gelitten, aber der Fanatismus, mit dem Voltaire und seine
Anhänger das Leides 1'Iutame! d. h. zerstört das Christenthum! wiederhol¬
ten, war doch nicht blos eine Versündigung an dem Fortschritt der Mensch¬
heit, sondern auch ein rasender historischer Irrthum. Voltaire besaß einen
außerordentlichen Scharfsinn, alles aufzuspüren, was die Geschichte des Christen¬
thums Häßliches und Lächerliches enthält, und einen ebenso außerordentlichen
Witz, diese Entdeckungen geltend zu machen, aber damit brachte er doch nur
eine schmähliche Caricatur des Christenthums zu Stande, und vergaß, daß
seine eigne Naturreligion, so farblos sie aussah, zum Theil ihr Bestes eben
den Einflüssen des so sehr geschmähten Christenthums verdankte.

Die deutschen Rationalisten gingen von der ganz richtigen Voraussetzung
aus, daß ein religiöser Fortschritt nur möglich sei, wenn man an das Be¬
stehende d. h. an den Glauben des Volks anknüpfe. Aber sie handelten zu¬
gleich im guten Gewissen; sie waren der festen Ueberzeugung, daß ihre Aus¬
legung des Christenthums die richtige sei. daß sie den Kern der Sache träfe.
Und hier mag man noch so stark ihre Irrthümer hervorheben, man mag z. B-
die symbolische Auslegung, die Kant von der Messiaslehre gibt, noch so be¬
fremdlich finden: sie enthält doch in der That die Hauptpunkte derselben, und
je -!und. irgend el" beliebiges anderes Religionssystem ähnlich auszulegen,
Würve schmählich mißlingen. Außerdem konnten sich die deutschen Theologen
auf die bessern ihrer Vorgänger selbst unter den Kirchenvätern berufen, bei
denen das creüo eMa adsurclum nur als Ausnahme vorkam; die sich vielmehr


strebenden Sittensprüche so, daß die Wunder wegfielen und daß die Sitten¬
sprüche etwas ganz Argloses sagen sollten, und kam in diesem Bemühen nicht
selten auf Trugschlüsse, die jedes Kind widerlegen kann. Kant dagegen be¬
hauptete nur, daß von der Bibel nur dasjenige verbindlich sein könne, was
Maximen für unser Handeln enthielte, und zwar solche, die unserm Gewissen
entsprächen. Er prüfte die Offenbarung an der Vernunft, und ohne weiter
über den Ursprung derselben zu grübeln, ließ er nur dasjenige gelten, was
durch die Vernunft bestätigt wurde.

Sodann wird die Haltung des historischen Nationalismus, die freilich
wie alles Justemilieu eine sehr undankbare war, durch seine zeitlichen Voraus¬
setzungen gerechtfertigt. Auf der einen Seite trat ihm die Lutherische Ortho¬
doxie entgegen, die mit der aufkeimenden Bildung ungefähr so viel Zusammen¬
hang hatte als der Buddhismus oder sonst ein ausländisches Religionssystem,
auf der andern Seite der französische Deismus (Voltaire), der sich zwar durch
den Glauben an Gott und an die Tugend sehr wesentlich von den Materia¬
listen jener Zeit unterschied, der aber in seinem Haß gegen das Christenthum
ebenso weit ging als diese. Freilich hatten die Franzosen unter dem Joch
der Jesuiten schwer gelitten, aber der Fanatismus, mit dem Voltaire und seine
Anhänger das Leides 1'Iutame! d. h. zerstört das Christenthum! wiederhol¬
ten, war doch nicht blos eine Versündigung an dem Fortschritt der Mensch¬
heit, sondern auch ein rasender historischer Irrthum. Voltaire besaß einen
außerordentlichen Scharfsinn, alles aufzuspüren, was die Geschichte des Christen¬
thums Häßliches und Lächerliches enthält, und einen ebenso außerordentlichen
Witz, diese Entdeckungen geltend zu machen, aber damit brachte er doch nur
eine schmähliche Caricatur des Christenthums zu Stande, und vergaß, daß
seine eigne Naturreligion, so farblos sie aussah, zum Theil ihr Bestes eben
den Einflüssen des so sehr geschmähten Christenthums verdankte.

Die deutschen Rationalisten gingen von der ganz richtigen Voraussetzung
aus, daß ein religiöser Fortschritt nur möglich sei, wenn man an das Be¬
stehende d. h. an den Glauben des Volks anknüpfe. Aber sie handelten zu¬
gleich im guten Gewissen; sie waren der festen Ueberzeugung, daß ihre Aus¬
legung des Christenthums die richtige sei. daß sie den Kern der Sache träfe.
Und hier mag man noch so stark ihre Irrthümer hervorheben, man mag z. B-
die symbolische Auslegung, die Kant von der Messiaslehre gibt, noch so be¬
fremdlich finden: sie enthält doch in der That die Hauptpunkte derselben, und
je -!und. irgend el« beliebiges anderes Religionssystem ähnlich auszulegen,
Würve schmählich mißlingen. Außerdem konnten sich die deutschen Theologen
auf die bessern ihrer Vorgänger selbst unter den Kirchenvätern berufen, bei
denen das creüo eMa adsurclum nur als Ausnahme vorkam; die sich vielmehr


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[0136] strebenden Sittensprüche so, daß die Wunder wegfielen und daß die Sitten¬ sprüche etwas ganz Argloses sagen sollten, und kam in diesem Bemühen nicht selten auf Trugschlüsse, die jedes Kind widerlegen kann. Kant dagegen be¬ hauptete nur, daß von der Bibel nur dasjenige verbindlich sein könne, was Maximen für unser Handeln enthielte, und zwar solche, die unserm Gewissen entsprächen. Er prüfte die Offenbarung an der Vernunft, und ohne weiter über den Ursprung derselben zu grübeln, ließ er nur dasjenige gelten, was durch die Vernunft bestätigt wurde. Sodann wird die Haltung des historischen Nationalismus, die freilich wie alles Justemilieu eine sehr undankbare war, durch seine zeitlichen Voraus¬ setzungen gerechtfertigt. Auf der einen Seite trat ihm die Lutherische Ortho¬ doxie entgegen, die mit der aufkeimenden Bildung ungefähr so viel Zusammen¬ hang hatte als der Buddhismus oder sonst ein ausländisches Religionssystem, auf der andern Seite der französische Deismus (Voltaire), der sich zwar durch den Glauben an Gott und an die Tugend sehr wesentlich von den Materia¬ listen jener Zeit unterschied, der aber in seinem Haß gegen das Christenthum ebenso weit ging als diese. Freilich hatten die Franzosen unter dem Joch der Jesuiten schwer gelitten, aber der Fanatismus, mit dem Voltaire und seine Anhänger das Leides 1'Iutame! d. h. zerstört das Christenthum! wiederhol¬ ten, war doch nicht blos eine Versündigung an dem Fortschritt der Mensch¬ heit, sondern auch ein rasender historischer Irrthum. Voltaire besaß einen außerordentlichen Scharfsinn, alles aufzuspüren, was die Geschichte des Christen¬ thums Häßliches und Lächerliches enthält, und einen ebenso außerordentlichen Witz, diese Entdeckungen geltend zu machen, aber damit brachte er doch nur eine schmähliche Caricatur des Christenthums zu Stande, und vergaß, daß seine eigne Naturreligion, so farblos sie aussah, zum Theil ihr Bestes eben den Einflüssen des so sehr geschmähten Christenthums verdankte. Die deutschen Rationalisten gingen von der ganz richtigen Voraussetzung aus, daß ein religiöser Fortschritt nur möglich sei, wenn man an das Be¬ stehende d. h. an den Glauben des Volks anknüpfe. Aber sie handelten zu¬ gleich im guten Gewissen; sie waren der festen Ueberzeugung, daß ihre Aus¬ legung des Christenthums die richtige sei. daß sie den Kern der Sache träfe. Und hier mag man noch so stark ihre Irrthümer hervorheben, man mag z. B- die symbolische Auslegung, die Kant von der Messiaslehre gibt, noch so be¬ fremdlich finden: sie enthält doch in der That die Hauptpunkte derselben, und je -!und. irgend el« beliebiges anderes Religionssystem ähnlich auszulegen, Würve schmählich mißlingen. Außerdem konnten sich die deutschen Theologen auf die bessern ihrer Vorgänger selbst unter den Kirchenvätern berufen, bei denen das creüo eMa adsurclum nur als Ausnahme vorkam; die sich vielmehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/136>, abgerufen am 25.08.2024.