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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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ein Greuel war. Endlich und das ist von den mitwirkenden Ursachen doch
nicht die kleinste, glaubte man sich an den Höfen überzeugt zu haben, daß
die religiöse Freidenkern sehr dazu geeignet sei, den Geist der Rebellion zu
nähren. Man veranlaßte daher das geistliche Regiment, sür die Abhilfe eines
solchen Uebelstandes Sorge zu tragen. Und hier zeigte sich, daß es doch noch
kräftigere Mittel gibt als die Scheiterhaufen, der Ketzerei zu steuern: man
ließ einfach die Kandidaten, die sich nicht zum rechten Glauben bekannten, im
Examen durchfallen, und da-die menschliche Natur keineswegs so taktfest ist,
wie ihre Anwälte behaupten, so war die Folge, daß in nicht zu langer Zeit
dem Bedürfniß einer rechtgläubigen Lehre in der Kirche und in der Schule
vollständig abgeholfen war. Rationalistische Geistliche sind heute eine Selten¬
heit, dafür macht man im Glauben immer weitere Fortschritte, und wer nicht
von der persönlichen und fleischlichen Allgegenwart des Teufels überzeugt ist,
darf heute kaum mehr wagen, sich einen Christen zu nennen. Heute
morgen vielleicht nicht mehr; denn seitdem an höchster Stelle gesagt worden
ist, daß eine gewisse Art der Orthodoxie geeignet sei, Heuchler zu machen,
weht der Wind schon wieder aus einer andern Ecke.

Das alles sind wol Gründe, aber keine ausreichenden, und man wird
über den sichern Fortschritt der Menschheit doch einigermaßen zweifelhaft, wenn
man die Schriften des alten Kant in die Hand nimmt, und damit vergleicht,
was unsere Weisen sagen. Freilich unterliegt es keinem Zweifel, daß der
Rationalismus als historische Erscheinung betrachtet viele berechtigte Bedürf¬
nisse des menschlichen Gemüths unbefriedigt ließ, und daß ihm auch in wissen¬
schaftlicher Beziehung eine große Einseitigkeit anklebte; aber in seinem Princip
enthält er doch lediglich die Anerkennung, daß der Mensch ein denkendes und
zurechnungsfähiges Wesen ist; und daß man im Behagen über die Schwächen
seiner historischen Erscheinung so weit gehn konnte, auch sein Princip zu leug¬
nen, ist eins der bedenklichsten Symptome des neunzehnten Jahrhunderts.
Mit großer Freude begrüßen wir daher Schriften wie die vorliegende, die sich
einmal ganz unumwunden zu dem alten, angeblich überwundenen Standpunkt
bekennen. Rückerts Buch ist nicht blos seiner Gesinnung nach, sondern auch
wegen der gründlichen, besonnenen, leidenschaftslosen Arbeit im hohen Grade
lesenswerth. Die einzige Schwäche scheint uns zu sein, daß er den begriff¬
lichen Rationalismus nicht scharf genug von dem historischen scheidet, und von
diesem Gesichtspunkt aus sei uns erlaubt ihn zu ergänzen.

Die allgemeine principielle Voraussetzung des Rationalismus ist, daß es
in der Welt nur ein Dcnkgesetz gibt; nicht etwa zwei, die sich widersprechen;
und zwar gilt diese Voraussetzung für die praktische wie für die theoretische
Vernunft. Was heute Naturgesetz ist, kann nicht zu irgend einer Zeit will¬
kürlich verändert worden sein. Die Gesetze der theoretischen Vernunft lehrt


ein Greuel war. Endlich und das ist von den mitwirkenden Ursachen doch
nicht die kleinste, glaubte man sich an den Höfen überzeugt zu haben, daß
die religiöse Freidenkern sehr dazu geeignet sei, den Geist der Rebellion zu
nähren. Man veranlaßte daher das geistliche Regiment, sür die Abhilfe eines
solchen Uebelstandes Sorge zu tragen. Und hier zeigte sich, daß es doch noch
kräftigere Mittel gibt als die Scheiterhaufen, der Ketzerei zu steuern: man
ließ einfach die Kandidaten, die sich nicht zum rechten Glauben bekannten, im
Examen durchfallen, und da-die menschliche Natur keineswegs so taktfest ist,
wie ihre Anwälte behaupten, so war die Folge, daß in nicht zu langer Zeit
dem Bedürfniß einer rechtgläubigen Lehre in der Kirche und in der Schule
vollständig abgeholfen war. Rationalistische Geistliche sind heute eine Selten¬
heit, dafür macht man im Glauben immer weitere Fortschritte, und wer nicht
von der persönlichen und fleischlichen Allgegenwart des Teufels überzeugt ist,
darf heute kaum mehr wagen, sich einen Christen zu nennen. Heute
morgen vielleicht nicht mehr; denn seitdem an höchster Stelle gesagt worden
ist, daß eine gewisse Art der Orthodoxie geeignet sei, Heuchler zu machen,
weht der Wind schon wieder aus einer andern Ecke.

Das alles sind wol Gründe, aber keine ausreichenden, und man wird
über den sichern Fortschritt der Menschheit doch einigermaßen zweifelhaft, wenn
man die Schriften des alten Kant in die Hand nimmt, und damit vergleicht,
was unsere Weisen sagen. Freilich unterliegt es keinem Zweifel, daß der
Rationalismus als historische Erscheinung betrachtet viele berechtigte Bedürf¬
nisse des menschlichen Gemüths unbefriedigt ließ, und daß ihm auch in wissen¬
schaftlicher Beziehung eine große Einseitigkeit anklebte; aber in seinem Princip
enthält er doch lediglich die Anerkennung, daß der Mensch ein denkendes und
zurechnungsfähiges Wesen ist; und daß man im Behagen über die Schwächen
seiner historischen Erscheinung so weit gehn konnte, auch sein Princip zu leug¬
nen, ist eins der bedenklichsten Symptome des neunzehnten Jahrhunderts.
Mit großer Freude begrüßen wir daher Schriften wie die vorliegende, die sich
einmal ganz unumwunden zu dem alten, angeblich überwundenen Standpunkt
bekennen. Rückerts Buch ist nicht blos seiner Gesinnung nach, sondern auch
wegen der gründlichen, besonnenen, leidenschaftslosen Arbeit im hohen Grade
lesenswerth. Die einzige Schwäche scheint uns zu sein, daß er den begriff¬
lichen Rationalismus nicht scharf genug von dem historischen scheidet, und von
diesem Gesichtspunkt aus sei uns erlaubt ihn zu ergänzen.

Die allgemeine principielle Voraussetzung des Rationalismus ist, daß es
in der Welt nur ein Dcnkgesetz gibt; nicht etwa zwei, die sich widersprechen;
und zwar gilt diese Voraussetzung für die praktische wie für die theoretische
Vernunft. Was heute Naturgesetz ist, kann nicht zu irgend einer Zeit will¬
kürlich verändert worden sein. Die Gesetze der theoretischen Vernunft lehrt


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[0134] ein Greuel war. Endlich und das ist von den mitwirkenden Ursachen doch nicht die kleinste, glaubte man sich an den Höfen überzeugt zu haben, daß die religiöse Freidenkern sehr dazu geeignet sei, den Geist der Rebellion zu nähren. Man veranlaßte daher das geistliche Regiment, sür die Abhilfe eines solchen Uebelstandes Sorge zu tragen. Und hier zeigte sich, daß es doch noch kräftigere Mittel gibt als die Scheiterhaufen, der Ketzerei zu steuern: man ließ einfach die Kandidaten, die sich nicht zum rechten Glauben bekannten, im Examen durchfallen, und da-die menschliche Natur keineswegs so taktfest ist, wie ihre Anwälte behaupten, so war die Folge, daß in nicht zu langer Zeit dem Bedürfniß einer rechtgläubigen Lehre in der Kirche und in der Schule vollständig abgeholfen war. Rationalistische Geistliche sind heute eine Selten¬ heit, dafür macht man im Glauben immer weitere Fortschritte, und wer nicht von der persönlichen und fleischlichen Allgegenwart des Teufels überzeugt ist, darf heute kaum mehr wagen, sich einen Christen zu nennen. Heute morgen vielleicht nicht mehr; denn seitdem an höchster Stelle gesagt worden ist, daß eine gewisse Art der Orthodoxie geeignet sei, Heuchler zu machen, weht der Wind schon wieder aus einer andern Ecke. Das alles sind wol Gründe, aber keine ausreichenden, und man wird über den sichern Fortschritt der Menschheit doch einigermaßen zweifelhaft, wenn man die Schriften des alten Kant in die Hand nimmt, und damit vergleicht, was unsere Weisen sagen. Freilich unterliegt es keinem Zweifel, daß der Rationalismus als historische Erscheinung betrachtet viele berechtigte Bedürf¬ nisse des menschlichen Gemüths unbefriedigt ließ, und daß ihm auch in wissen¬ schaftlicher Beziehung eine große Einseitigkeit anklebte; aber in seinem Princip enthält er doch lediglich die Anerkennung, daß der Mensch ein denkendes und zurechnungsfähiges Wesen ist; und daß man im Behagen über die Schwächen seiner historischen Erscheinung so weit gehn konnte, auch sein Princip zu leug¬ nen, ist eins der bedenklichsten Symptome des neunzehnten Jahrhunderts. Mit großer Freude begrüßen wir daher Schriften wie die vorliegende, die sich einmal ganz unumwunden zu dem alten, angeblich überwundenen Standpunkt bekennen. Rückerts Buch ist nicht blos seiner Gesinnung nach, sondern auch wegen der gründlichen, besonnenen, leidenschaftslosen Arbeit im hohen Grade lesenswerth. Die einzige Schwäche scheint uns zu sein, daß er den begriff¬ lichen Rationalismus nicht scharf genug von dem historischen scheidet, und von diesem Gesichtspunkt aus sei uns erlaubt ihn zu ergänzen. Die allgemeine principielle Voraussetzung des Rationalismus ist, daß es in der Welt nur ein Dcnkgesetz gibt; nicht etwa zwei, die sich widersprechen; und zwar gilt diese Voraussetzung für die praktische wie für die theoretische Vernunft. Was heute Naturgesetz ist, kann nicht zu irgend einer Zeit will¬ kürlich verändert worden sein. Die Gesetze der theoretischen Vernunft lehrt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/134>, abgerufen am 25.08.2024.