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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Insel, ja bisweilen des Hanfes; denn der Wind kann mit solcher Heftigkeit
wehen, daß man nur liegend am Ufer zu verweilen vermag.

Am Z8. und 19. August jenes Sommers, als ich auf Wanger-Oge ver¬
weilte, tobte zur Zeit der Springflut ein heftiger Sturm. Ich hatte den Tag
zuvor mit einem älteren Freunde aus Oldenburg bei dem heitersten Wetter
einen Gang um die Insel gemacht. Er hatte in Heidelberg studirt und bei
Walch, dem Pandektisten, mit einigen Landsleuten ein Privatissimum gehört.
Der Herr Professor, einer der gelehrtesten und wunderlichsten Männer seiner
Zeit, war unglaublich unbekannt mit allem, was außerhalb seiner Wissenschaft
lag, und ebenso ungeschickt es aufzufassen. In der Absicht, etwas über das Meer
zu erfahren, welches er, der Göttinger, nie gesehen, richtete er an die olden¬
burger Studenten verschiedene Fragen. Es kam die Rede auf "lange Seen",
d. h. auf Wellenbänke, die einander in gleicher Richtung folgen, ohne sich
einzuholen, und auf "kurze Seen", welche dicht hintereinander laufen, über¬
einander fortrollen und sich brechen. Walch suchte sich dies nach seiner Art
verständlich zu machen. "Bitte! sagte er zu meinem Freunde, lassen Sie uus
die eine Wellenbauk Cajus, die andere Sempronius nennen. Wie verhält es
sich nun mit der verschiedenen Bewegung?" ""Bei den langen Seen, erwie¬
derte mein Freund, folgt Cajus dem Sempronius, ohne ihn zu erreichen; bei
den kurzen faßt er ihn beim Nacken und stürzt sich über ihn hinaus."" "Stürzt
über ihn hinaus. Gut, jetzt verstehe ich."

Ich lachte über den Stockjuristen, der sich die Wellenbewegung nur da¬
durch zurecht legen konnte, daß er die Namen gebrauchte, womit die Rechts-
gelehrten und Philosophen beliebige Personen zu bezeichnen Pflegen. Jetzt
>var reichliche Gelegenheit zu sehen, wie Cajus den Sempronius überwältigte;
über wahrlich, die Lust zu lachen stand mir fern im Anschauen der Tragödie,
die hier vor mir gespielt wurde. Die grauen Wolken hingen tief herab. Ein
furchtbarer Orkan durchwühlte die See, welche in schwarzen, oft ganz von
kochendem Schaume bedeckten Hügeln aus und nieder ging. Mit grauenhaften:
Gebrüll rannte die Brandung wie Hunderttausende weißmnhnigcr Rosse die Dünen
hinan. Einige Herren, welche von dem auf einem höhern Theile des Ufers gelege¬
nen Pavillon des Conversationshauscs, an die Pfosten angeklammert, das er¬
habene Schauspiel genießen wollten, wurden dort bald von den anspritzenden
^ec- und Schlammgüsscn hinweggepeitscht. An dem äußersten Ufer tobte die
Windsbraut so heftig, daß man dem höchsten Räude nur kriechend sich zu
Nahen und, durch den Damm oder die Düne bis zur Brust gedeckt, dem Sturm
'Ah Antlitz zu schauen vermochte. Einen kläglichen Anblick gewährten die Wei-
und Kinder derjenigen Schiffer, welche man um diese Zeit ausgelaufen
"der heimkehrend wußte. Einige starrten in stummer, bewegungsloser Angst
"i die wildempörte Wasserwüste hinaus; andere irrten händeringend unter


Insel, ja bisweilen des Hanfes; denn der Wind kann mit solcher Heftigkeit
wehen, daß man nur liegend am Ufer zu verweilen vermag.

Am Z8. und 19. August jenes Sommers, als ich auf Wanger-Oge ver¬
weilte, tobte zur Zeit der Springflut ein heftiger Sturm. Ich hatte den Tag
zuvor mit einem älteren Freunde aus Oldenburg bei dem heitersten Wetter
einen Gang um die Insel gemacht. Er hatte in Heidelberg studirt und bei
Walch, dem Pandektisten, mit einigen Landsleuten ein Privatissimum gehört.
Der Herr Professor, einer der gelehrtesten und wunderlichsten Männer seiner
Zeit, war unglaublich unbekannt mit allem, was außerhalb seiner Wissenschaft
lag, und ebenso ungeschickt es aufzufassen. In der Absicht, etwas über das Meer
zu erfahren, welches er, der Göttinger, nie gesehen, richtete er an die olden¬
burger Studenten verschiedene Fragen. Es kam die Rede auf „lange Seen",
d. h. auf Wellenbänke, die einander in gleicher Richtung folgen, ohne sich
einzuholen, und auf „kurze Seen", welche dicht hintereinander laufen, über¬
einander fortrollen und sich brechen. Walch suchte sich dies nach seiner Art
verständlich zu machen. „Bitte! sagte er zu meinem Freunde, lassen Sie uus
die eine Wellenbauk Cajus, die andere Sempronius nennen. Wie verhält es
sich nun mit der verschiedenen Bewegung?" „„Bei den langen Seen, erwie¬
derte mein Freund, folgt Cajus dem Sempronius, ohne ihn zu erreichen; bei
den kurzen faßt er ihn beim Nacken und stürzt sich über ihn hinaus."" „Stürzt
über ihn hinaus. Gut, jetzt verstehe ich."

Ich lachte über den Stockjuristen, der sich die Wellenbewegung nur da¬
durch zurecht legen konnte, daß er die Namen gebrauchte, womit die Rechts-
gelehrten und Philosophen beliebige Personen zu bezeichnen Pflegen. Jetzt
>var reichliche Gelegenheit zu sehen, wie Cajus den Sempronius überwältigte;
über wahrlich, die Lust zu lachen stand mir fern im Anschauen der Tragödie,
die hier vor mir gespielt wurde. Die grauen Wolken hingen tief herab. Ein
furchtbarer Orkan durchwühlte die See, welche in schwarzen, oft ganz von
kochendem Schaume bedeckten Hügeln aus und nieder ging. Mit grauenhaften:
Gebrüll rannte die Brandung wie Hunderttausende weißmnhnigcr Rosse die Dünen
hinan. Einige Herren, welche von dem auf einem höhern Theile des Ufers gelege¬
nen Pavillon des Conversationshauscs, an die Pfosten angeklammert, das er¬
habene Schauspiel genießen wollten, wurden dort bald von den anspritzenden
^ec- und Schlammgüsscn hinweggepeitscht. An dem äußersten Ufer tobte die
Windsbraut so heftig, daß man dem höchsten Räude nur kriechend sich zu
Nahen und, durch den Damm oder die Düne bis zur Brust gedeckt, dem Sturm
'Ah Antlitz zu schauen vermochte. Einen kläglichen Anblick gewährten die Wei-
und Kinder derjenigen Schiffer, welche man um diese Zeit ausgelaufen
"der heimkehrend wußte. Einige starrten in stummer, bewegungsloser Angst
"i die wildempörte Wasserwüste hinaus; andere irrten händeringend unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/121>, abgerufen am 25.08.2024.