Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.werden: die Buße, die Bitte und der Lobgesang; der einzelne Mensch mit Im Oratorium ist es dagegen anders; es beruht vor allen Dingen auf Die Passionsmusik ist durch ihren Helden Christus theils noch rein christ¬ Seinem meist biblisch historischen Stoff und dem daraus hervorgehenden, Ueber den Stil des Oratoriums läßt sich in kurzen Worten nicht leicht werden: die Buße, die Bitte und der Lobgesang; der einzelne Mensch mit Im Oratorium ist es dagegen anders; es beruht vor allen Dingen auf Die Passionsmusik ist durch ihren Helden Christus theils noch rein christ¬ Seinem meist biblisch historischen Stoff und dem daraus hervorgehenden, Ueber den Stil des Oratoriums läßt sich in kurzen Worten nicht leicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0501" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108087"/> <p xml:id="ID_1639" prev="#ID_1638"> werden: die Buße, die Bitte und der Lobgesang; der einzelne Mensch mit<lb/> seinem Denken, Handeln und seinen Leidenschaften tritt ganz zurück.</p><lb/> <p xml:id="ID_1640"> Im Oratorium ist es dagegen anders; es beruht vor allen Dingen auf<lb/> einem wirklich geschehenen, oder doch als geschehen erdichteten Ereigniß, dessen<lb/> Mittelpunkt gewohnlich ein biblischer Held ist. Die allgemeinen Empfindungen<lb/> der lyrisch-religiösen Musik behalten nur noch bedingte Geltung, größtentheils<lb/> gehen sie über in die Charakteristik der einzelnen Person — der Held und die<lb/> Nebenpersonen mit dem sie umgebenden Chor concentriren sich aus jener All¬<lb/> gemeinheit heraus zu selbstständig handelnden Individuen; auch der Chor hat<lb/> keineswegs mehr mit durchaus reinen Empfindungen zu thun, sondern<lb/> nimmt oft genug unmittelbar Theil an der wirklichen Handlung. Die Gott¬<lb/> heit steht nicht mehr als einziges Object dem Menschen gegenüber, sondern<lb/> ruht mehr als sittliche Macht im Hintergrund, auf dem der Mensch selbst<lb/> die Idee entweder bethätigend oder verneinend, als wirkliches Individuum<lb/> selbststündig handelt. Und damit thut das Oratorium einen weiten Schritt<lb/> hinweg von der rein gottesdienstlichen Musik, und stellt sich vermittelnd zwi¬<lb/> schen diese und die blos weltlich dramatische Kunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_1641"> Die Passionsmusik ist durch ihren Helden Christus theils noch rein christ¬<lb/> lich gottcsdicnstlich, theils aber auch den Gesetzen des Oratoriums unterworfen,<lb/> und seiner Freiheiten theilhaftig. Die reine Idealität des Helden schließt<lb/> zwar die Leidenschaft nicht gänzlich ans, verlangt aber doch mehr die Beto¬<lb/> nung seiner göttlichen Eigenschaften; eine schärfere Charakteristik wirft sich des¬<lb/> halb mehr auf seine Umgebung, die Jünger und das Volk, während die reli¬<lb/> giösen Stimmungen und Betrachtungen in den Chören und Einzelnsätzen der<lb/> die eigentliche Handlung umstehenden Gemeinde ausgesprochen werden. Die<lb/> Gestalt Christi, in der Passionsmusik durch sein menschliches Leiden uns zwar<lb/> näher gerückt, wird jederzeit eine derartig freie Charakterzeichnung, wie sie die<lb/> Helden des eigentlichen Oratoriums gestatten, zurückweisen, und unsere Em¬<lb/> pfindung bleibt ihr gegenüber immer eine überwiegend religiöse. In der ältern<lb/> Passionsmusik erscheint Christus auch von jeder Persönlichkeit abgelöst, als Chor.</p><lb/> <p xml:id="ID_1642"> Seinem meist biblisch historischen Stoff und dem daraus hervorgehenden,<lb/> den ernsten kirchlichen Formen sich anschließenden Musikstil uach steht das<lb/> Oratorium also aus Seiten der kirchlichen Kunst; durch die freie, die Leiden-<lb/> schaften nicht ausschließende Gestaltung des Helden und seiner Umgebung<lb/> durch die wieder zu individueller Geltung gebrachte einzelne Person, die in<lb/> der rein religiösen Musik in die Allgemeinheit gänzlich sich auflösen mußte, ragt<lb/> es in die weltliche Kunst hinein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1643" next="#ID_1644"> Ueber den Stil des Oratoriums läßt sich in kurzen Worten nicht leicht<lb/> etwas Erschöpfendes sagen. Er wird weder rein kirchlich noch weltlich, weder<lb/> ^in lyrisch, noch rein episch oder dramatisch sein. Da die Formen — wie</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0501]
werden: die Buße, die Bitte und der Lobgesang; der einzelne Mensch mit
seinem Denken, Handeln und seinen Leidenschaften tritt ganz zurück.
Im Oratorium ist es dagegen anders; es beruht vor allen Dingen auf
einem wirklich geschehenen, oder doch als geschehen erdichteten Ereigniß, dessen
Mittelpunkt gewohnlich ein biblischer Held ist. Die allgemeinen Empfindungen
der lyrisch-religiösen Musik behalten nur noch bedingte Geltung, größtentheils
gehen sie über in die Charakteristik der einzelnen Person — der Held und die
Nebenpersonen mit dem sie umgebenden Chor concentriren sich aus jener All¬
gemeinheit heraus zu selbstständig handelnden Individuen; auch der Chor hat
keineswegs mehr mit durchaus reinen Empfindungen zu thun, sondern
nimmt oft genug unmittelbar Theil an der wirklichen Handlung. Die Gott¬
heit steht nicht mehr als einziges Object dem Menschen gegenüber, sondern
ruht mehr als sittliche Macht im Hintergrund, auf dem der Mensch selbst
die Idee entweder bethätigend oder verneinend, als wirkliches Individuum
selbststündig handelt. Und damit thut das Oratorium einen weiten Schritt
hinweg von der rein gottesdienstlichen Musik, und stellt sich vermittelnd zwi¬
schen diese und die blos weltlich dramatische Kunst.
Die Passionsmusik ist durch ihren Helden Christus theils noch rein christ¬
lich gottcsdicnstlich, theils aber auch den Gesetzen des Oratoriums unterworfen,
und seiner Freiheiten theilhaftig. Die reine Idealität des Helden schließt
zwar die Leidenschaft nicht gänzlich ans, verlangt aber doch mehr die Beto¬
nung seiner göttlichen Eigenschaften; eine schärfere Charakteristik wirft sich des¬
halb mehr auf seine Umgebung, die Jünger und das Volk, während die reli¬
giösen Stimmungen und Betrachtungen in den Chören und Einzelnsätzen der
die eigentliche Handlung umstehenden Gemeinde ausgesprochen werden. Die
Gestalt Christi, in der Passionsmusik durch sein menschliches Leiden uns zwar
näher gerückt, wird jederzeit eine derartig freie Charakterzeichnung, wie sie die
Helden des eigentlichen Oratoriums gestatten, zurückweisen, und unsere Em¬
pfindung bleibt ihr gegenüber immer eine überwiegend religiöse. In der ältern
Passionsmusik erscheint Christus auch von jeder Persönlichkeit abgelöst, als Chor.
Seinem meist biblisch historischen Stoff und dem daraus hervorgehenden,
den ernsten kirchlichen Formen sich anschließenden Musikstil uach steht das
Oratorium also aus Seiten der kirchlichen Kunst; durch die freie, die Leiden-
schaften nicht ausschließende Gestaltung des Helden und seiner Umgebung
durch die wieder zu individueller Geltung gebrachte einzelne Person, die in
der rein religiösen Musik in die Allgemeinheit gänzlich sich auflösen mußte, ragt
es in die weltliche Kunst hinein.
Ueber den Stil des Oratoriums läßt sich in kurzen Worten nicht leicht
etwas Erschöpfendes sagen. Er wird weder rein kirchlich noch weltlich, weder
^in lyrisch, noch rein episch oder dramatisch sein. Da die Formen — wie
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