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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Kunstwerk, in dem Religiöses und Weltliches sich vereinigen, betrachtet. Aller¬
dings wird es in den Grundzügen mehr oder weniger von den religiösen An¬
schauungen seiner Zeit abhängig sein, aber da die objective Hingabe an den
Stoff, die innere Wahrheit und Folgerichtigkeit einer Entwicklung und selbst-'
verständlich deshalb auch die scharfe bestimmte Charakterzeichnung Haupt-
bedingungen des Oratoriums sind, so ist dieses eben ein völlig freies Kunstwerk.
Durch seine epischen und dramatischen Eigenschaften steht es auf Seite der
weltlichen, durch seinen meist der Bibel entnommenen Stoff (besonders wenn
dieser dem neuen Testament, welches für uns noch volle religiöse Bedeutung
hat, angehört) noch der kirchlichen Kunst nahe.

In der rein lyrisch-religiösen oder gottesdienstlichen Musik, dem Choral,
der Motette und Messe, auch in der Passionsmusik ist es etwas anders. I"
der ersten, tritt das göttliche Wesen zu einem festen Ideal concentrirt als
deutliches Objct aller religiösen Empfindungen dem Menschen unmittelbar
gegenüber; die rein kirchliche Kunst erkennt dieses Ideal nicht nur in seiner
sittlichen Bethätigung im Innern des Menschen, in seinem Empfinden und
Handeln, sondern auch als ein bestimmtes Wesen, den Inbegriff aller sittlichen
Mächte, als die Gottheit, auch über und außer sich. Als ein wirkliches Wesen,
natürlich geistiger Art, müssen wir uns die Gottheit vorstellen, wenn wir im
Stande sein sollen, sie zum bestimmten Object unsrer Gefühle und deren Dar¬
stellung in der religiösen Kunst zu denken. Als rein metaphysische Idee bliebe
sie der Kunst völlig unzugänglich; so wie jede Idee an eine Gegenständlichkeit
sich knüpfen muß, um für die Kunst darstellbar zu werden, so muß auch der
unendliche göttliche Geist zu einem Wesen mit bestimmten, unserm Gefühl
zugänglichen Eigenschaften sich vcrendlichen, wenn es Object für unsere Em¬
pfindungen in der Kunst werden soll. Für das reine Denken ist es ganz gleich-
giltig, ob wir uns die Gottheit als Realität oder Idee vorstellen; dem Gefühl
jedoch, folglich auch der Kunst rückt die reine Idee in unendlich unerreichbare
Fernen, Gefühl und Kunst verlangen Realität. Somit wird die gottesdienst-
liche Tonkunst auch von der bestimmten Anschauung, welche in'einer Zeit-
Periode, Religion und Kirche vom göttlichen Wesen sich gebildet hat, ab¬
hängig sein.

Das Hauptmerkmal der reinen Kirchenmusik besteht in einem Aufgeben
des eignen Selbst an die Gottheit, und davon ist untrennbar ein Aufgeben
aller, die eigne Person und ihre Einzelinteressen betreffenden Leidenschaften.
Wenngleich die religiöse Tonkunst des Pathos auch keineswegs entbehrt, s"
findet sie es doch nur in dem innern Conflict zwischen der erkannten Größe
der sittlich religiösen Forderung, und dem Bewußtsein der eignen Unzulänglich¬
keit jenen Forderungen gegenüber. Hieraus entspringen die drei ganz allge¬
meinen Gemüthsbewegungen, welche der religiösen Kunst stets Hauptinhalt sein


Kunstwerk, in dem Religiöses und Weltliches sich vereinigen, betrachtet. Aller¬
dings wird es in den Grundzügen mehr oder weniger von den religiösen An¬
schauungen seiner Zeit abhängig sein, aber da die objective Hingabe an den
Stoff, die innere Wahrheit und Folgerichtigkeit einer Entwicklung und selbst-'
verständlich deshalb auch die scharfe bestimmte Charakterzeichnung Haupt-
bedingungen des Oratoriums sind, so ist dieses eben ein völlig freies Kunstwerk.
Durch seine epischen und dramatischen Eigenschaften steht es auf Seite der
weltlichen, durch seinen meist der Bibel entnommenen Stoff (besonders wenn
dieser dem neuen Testament, welches für uns noch volle religiöse Bedeutung
hat, angehört) noch der kirchlichen Kunst nahe.

In der rein lyrisch-religiösen oder gottesdienstlichen Musik, dem Choral,
der Motette und Messe, auch in der Passionsmusik ist es etwas anders. I"
der ersten, tritt das göttliche Wesen zu einem festen Ideal concentrirt als
deutliches Objct aller religiösen Empfindungen dem Menschen unmittelbar
gegenüber; die rein kirchliche Kunst erkennt dieses Ideal nicht nur in seiner
sittlichen Bethätigung im Innern des Menschen, in seinem Empfinden und
Handeln, sondern auch als ein bestimmtes Wesen, den Inbegriff aller sittlichen
Mächte, als die Gottheit, auch über und außer sich. Als ein wirkliches Wesen,
natürlich geistiger Art, müssen wir uns die Gottheit vorstellen, wenn wir im
Stande sein sollen, sie zum bestimmten Object unsrer Gefühle und deren Dar¬
stellung in der religiösen Kunst zu denken. Als rein metaphysische Idee bliebe
sie der Kunst völlig unzugänglich; so wie jede Idee an eine Gegenständlichkeit
sich knüpfen muß, um für die Kunst darstellbar zu werden, so muß auch der
unendliche göttliche Geist zu einem Wesen mit bestimmten, unserm Gefühl
zugänglichen Eigenschaften sich vcrendlichen, wenn es Object für unsere Em¬
pfindungen in der Kunst werden soll. Für das reine Denken ist es ganz gleich-
giltig, ob wir uns die Gottheit als Realität oder Idee vorstellen; dem Gefühl
jedoch, folglich auch der Kunst rückt die reine Idee in unendlich unerreichbare
Fernen, Gefühl und Kunst verlangen Realität. Somit wird die gottesdienst-
liche Tonkunst auch von der bestimmten Anschauung, welche in'einer Zeit-
Periode, Religion und Kirche vom göttlichen Wesen sich gebildet hat, ab¬
hängig sein.

Das Hauptmerkmal der reinen Kirchenmusik besteht in einem Aufgeben
des eignen Selbst an die Gottheit, und davon ist untrennbar ein Aufgeben
aller, die eigne Person und ihre Einzelinteressen betreffenden Leidenschaften.
Wenngleich die religiöse Tonkunst des Pathos auch keineswegs entbehrt, s"
findet sie es doch nur in dem innern Conflict zwischen der erkannten Größe
der sittlich religiösen Forderung, und dem Bewußtsein der eignen Unzulänglich¬
keit jenen Forderungen gegenüber. Hieraus entspringen die drei ganz allge¬
meinen Gemüthsbewegungen, welche der religiösen Kunst stets Hauptinhalt sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/500>, abgerufen am 23.07.2024.