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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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aber unsere moderne Jnstrumentalesfcctmusik und Einfachheit sind zwei sich
völlig fremde Potenzen. Die Instrumentalmusik unserer unmittelbaren Gegen¬
wart hat nichts Lebenskräftiges in sich, sonst würde sie nicht wie die Zukunfts¬
musik hinter das Programm sich zu flüchten suchen und selbst zum Wider¬
licher und Häßlichen ihre Zuflucht nehmen, welches die gesuchte Originalität
der modernen Musik bekanntermaßen nicht verschmäht, um einer schon bis
zum Aeußersten ausgebeuteten Jnstrumentaltechnik noch "innrer neue Pointen
abzugewinnen und dadurch über ihre Juhaltsleere zu täuschen. In der Kirchen¬
musik ist der reine Gesang stets das Organ gewesen, dessen nicht nur die an¬
fängliche, sondern auch die Kunst in ihrer höchsten Vollendung, als eines von
Natur unmittelbar ihr dargebotnen, zum Ausdruck der tiefsten Gefühle und
Ideen sich bediente. Das Instrumentale dagegen ist jederzeit weit hinter das
Vocale zurückgetreten, wenngleich man nicht in Abrede stellen darf, daß besonders
in der einfach bedeutenden Verwendung der Instrumente, wie wir sie in den
Werken der Bach- und Händelschen Blütezeit finden, die Kunst der Jnstrumen¬
tation auch der Kirchenmusik ein wichtiges Ausdrucksmittel wurde. Wie un¬
übertrefflich beide Meister oft die sinnliche Gegenwart der Situation durch das
mit dem Chor verbundene Orchester uns auch sinnlich näher zu rücken ver¬
stehen, ist bekannt -- ja, es ist gar nicht zu denken, daß ein Oratorium ohne
eine entwickelte Instrumentalmusik jene Höhe epischer und dramatischer Kraft
hätte ersteigen können. Mit jener sinnlichen Verdeutlichung durch nicht mehr
wie unbedingt zum Ausdruck nöthige Instrumeutalnrittel ist aber auch zu¬
gleich die Grenzlinie gezogen, welche die Jnstrumentation in der kirchlichen
Tonkunst nicht überschreiten durs. Unbedingt wahr ist, daß jemehr die Kirchen¬
musik an religiöser Innigkeit und kraftvoller Wahrheit, das Oratorium an
ernster Stilsestigkeit eingebüßt, je mehr beide Gattungen (wie bei Mendelsohn)
sich in das Gebiet des blos sinnlich Schönen, oder sogar absolut Weltlichen
verloren haben, desto mehr hat sinnlicher Jnstruinentalpvmp in der kirchlichen
Tonkunst zu dominiren begonnen.

Eine natürliche Folge davon war das Zurücktreten und die Verkümmerung
des gewaltigsten, beseeltesten Ausdrucksmittels unsrer Kunst, des Chorgesanges.
Die eigentliche Kunst des Chorgesangsatzes, wie die ältern Meister sie scho'
besaßen, und wie sie Schütz, Bach und Händel, auf die neuen Ideen des Pro¬
testantismus begründet, im Figuralstil zur höchsten Reife brachten, scheint für die
Tonsetzer unsrer heutigen Tage rein verloren zu gehen, oder aus Mißkenntniß
ihrer Bedeutung und Behandlung in eine ganz falsche Stellung hineingezwängt
zu werden. So hat auch jene erst erwähnte Festmesse unter andern die mehr
wie erhebliche Schwäche, daß der Chor trotz großer Kraftanstrengung auch gar
nicht im Geringsten der Absicht entsprechend wirkt. Ganz natürlich; denn er ist
eigentlich nur eine trüge todte Füllmasse, die einzelnen Stimmen haben "nchts


aber unsere moderne Jnstrumentalesfcctmusik und Einfachheit sind zwei sich
völlig fremde Potenzen. Die Instrumentalmusik unserer unmittelbaren Gegen¬
wart hat nichts Lebenskräftiges in sich, sonst würde sie nicht wie die Zukunfts¬
musik hinter das Programm sich zu flüchten suchen und selbst zum Wider¬
licher und Häßlichen ihre Zuflucht nehmen, welches die gesuchte Originalität
der modernen Musik bekanntermaßen nicht verschmäht, um einer schon bis
zum Aeußersten ausgebeuteten Jnstrumentaltechnik noch »innrer neue Pointen
abzugewinnen und dadurch über ihre Juhaltsleere zu täuschen. In der Kirchen¬
musik ist der reine Gesang stets das Organ gewesen, dessen nicht nur die an¬
fängliche, sondern auch die Kunst in ihrer höchsten Vollendung, als eines von
Natur unmittelbar ihr dargebotnen, zum Ausdruck der tiefsten Gefühle und
Ideen sich bediente. Das Instrumentale dagegen ist jederzeit weit hinter das
Vocale zurückgetreten, wenngleich man nicht in Abrede stellen darf, daß besonders
in der einfach bedeutenden Verwendung der Instrumente, wie wir sie in den
Werken der Bach- und Händelschen Blütezeit finden, die Kunst der Jnstrumen¬
tation auch der Kirchenmusik ein wichtiges Ausdrucksmittel wurde. Wie un¬
übertrefflich beide Meister oft die sinnliche Gegenwart der Situation durch das
mit dem Chor verbundene Orchester uns auch sinnlich näher zu rücken ver¬
stehen, ist bekannt — ja, es ist gar nicht zu denken, daß ein Oratorium ohne
eine entwickelte Instrumentalmusik jene Höhe epischer und dramatischer Kraft
hätte ersteigen können. Mit jener sinnlichen Verdeutlichung durch nicht mehr
wie unbedingt zum Ausdruck nöthige Instrumeutalnrittel ist aber auch zu¬
gleich die Grenzlinie gezogen, welche die Jnstrumentation in der kirchlichen
Tonkunst nicht überschreiten durs. Unbedingt wahr ist, daß jemehr die Kirchen¬
musik an religiöser Innigkeit und kraftvoller Wahrheit, das Oratorium an
ernster Stilsestigkeit eingebüßt, je mehr beide Gattungen (wie bei Mendelsohn)
sich in das Gebiet des blos sinnlich Schönen, oder sogar absolut Weltlichen
verloren haben, desto mehr hat sinnlicher Jnstruinentalpvmp in der kirchlichen
Tonkunst zu dominiren begonnen.

Eine natürliche Folge davon war das Zurücktreten und die Verkümmerung
des gewaltigsten, beseeltesten Ausdrucksmittels unsrer Kunst, des Chorgesanges.
Die eigentliche Kunst des Chorgesangsatzes, wie die ältern Meister sie scho'
besaßen, und wie sie Schütz, Bach und Händel, auf die neuen Ideen des Pro¬
testantismus begründet, im Figuralstil zur höchsten Reife brachten, scheint für die
Tonsetzer unsrer heutigen Tage rein verloren zu gehen, oder aus Mißkenntniß
ihrer Bedeutung und Behandlung in eine ganz falsche Stellung hineingezwängt
zu werden. So hat auch jene erst erwähnte Festmesse unter andern die mehr
wie erhebliche Schwäche, daß der Chor trotz großer Kraftanstrengung auch gar
nicht im Geringsten der Absicht entsprechend wirkt. Ganz natürlich; denn er ist
eigentlich nur eine trüge todte Füllmasse, die einzelnen Stimmen haben »nchts


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/498>, abgerufen am 23.07.2024.