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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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liebste, was die gegenwärtige und vergangene Zeit leistete, wurde dem Volk
ohne weiteres beim Gottesdienst zu Theil. Davon ist jetzt freilich keine Rede
mehr, unsere heutigen Kirchenmusikaufführungen haben etwas von einer Zwangs¬
arbeit an sich. Aber dennoch ist die Sache kein Traum; denn im Wesentlichen
ist sie hier schon seit einigen Jahren durch die Aufführungen des auch neulich
erwähnten Niedclschcn Vereins verwirklicht. Auch der Unbemittelte kann sich
zu jenen Kirchenconcerten ohne Eintrittsgeld leicht eine Einlaßkarte ver¬
schaffen. Außer der Bachschen Ir moll Messe sind auf diese Weise bereits eine
große Anzahl Kirchenwerke der größten altitalienischen und deutschen Meister
durch jenen Verein in weitere Volkskreise gedrungen; die Thomaskirche ist bei
diesen Concerten stets überfüllt -- ein Beweis allerdings für die solide Aus¬
führung der Werke, aber ebenso auch für das, wenn auch nicht geklärte und
zum Bewußtsein gelangte, so doch immerhin vorhandene Bedürfniß des Volkes,
sich an solchen Kunstwerken zu erbauen. Ich komme noch einmal darauf zu¬
rück, wie für diesen Verein der u, eaxellg, Gesang, so wäre das Oratorium,
d. h. nicht das nachgeborcne Mcndelsvhnsche, sondern das unmittelbar vom
Geist und der Wahrheit ausgehende Händclsche Oratorium die Aufgabe un¬
serer Singakademie. Kirchenaufführungen gegen mäßiges Eintrittsgeld wür¬
den die größte Theilnahme im Publicum finden, und die Kräfte fester zusammen¬
halten als es jetzt bei fast völliger Untätigkeit oder gänzlich zerstreuten ziel¬
losen Treiben möglich ist. Alle Bedingungen sind in der Singakademie vor¬
handen, musikalische Kräfte und der ausgezeichnetste Dirigent; als Zweck und
Ziel solchen Unternehmens wurde neulich die Stiftung eines Bachdenkmals
vorgeschlagen -- ich bin hier noch einmal darauf zurückgekommen, weil es
wol als eine gute Sache erscheint, die einer Beachtung vielleicht nicht ganz
unwerth ist.

Seitdem religiöses und Volksleben sich so völlig voneinander getrennt
haben, hat die Kirchenmusik, weil sie an dem ihr angeborenen Platz, in der
Kirche selbst, keine Pflege mehr fand, der weltlichen Musik gegenüber
mehr und mehr an Charakter und Selbstständigkeit verloren, und, um
wenigstens irgend eine Existenz zu behalten, jener nach in die Concertsäle sich
einschleichen müssen. Freilich erlangte sie hier höchstens Duldung, und
fristete ihr Dasein dadurch, daß sie nach und nach möglichst von der natür¬
lichen Höhe ihrer Idealität herniederstieg, ihre großen und strengen Formen
zum Schema herabsetzte, oder möglichst verweltlichte und verweichlichte, und
die ernsten Züge ihres Antlitzes nur hin und wieder als Larve aussteckte, um
dahinter oft genug reinwcltliche Sentimentalität, Ueberschwenglichkeit neben
Armuth an Größe und Kälte der Empfindung zu verbergen. Da trotz immer¬
hin mangelnder Klarheit die richtige Empfindung für eine Sache oder eine
Kunst, auch wenn diese selbst gesunken ist, im Menschen und im Volk doch


liebste, was die gegenwärtige und vergangene Zeit leistete, wurde dem Volk
ohne weiteres beim Gottesdienst zu Theil. Davon ist jetzt freilich keine Rede
mehr, unsere heutigen Kirchenmusikaufführungen haben etwas von einer Zwangs¬
arbeit an sich. Aber dennoch ist die Sache kein Traum; denn im Wesentlichen
ist sie hier schon seit einigen Jahren durch die Aufführungen des auch neulich
erwähnten Niedclschcn Vereins verwirklicht. Auch der Unbemittelte kann sich
zu jenen Kirchenconcerten ohne Eintrittsgeld leicht eine Einlaßkarte ver¬
schaffen. Außer der Bachschen Ir moll Messe sind auf diese Weise bereits eine
große Anzahl Kirchenwerke der größten altitalienischen und deutschen Meister
durch jenen Verein in weitere Volkskreise gedrungen; die Thomaskirche ist bei
diesen Concerten stets überfüllt — ein Beweis allerdings für die solide Aus¬
führung der Werke, aber ebenso auch für das, wenn auch nicht geklärte und
zum Bewußtsein gelangte, so doch immerhin vorhandene Bedürfniß des Volkes,
sich an solchen Kunstwerken zu erbauen. Ich komme noch einmal darauf zu¬
rück, wie für diesen Verein der u, eaxellg, Gesang, so wäre das Oratorium,
d. h. nicht das nachgeborcne Mcndelsvhnsche, sondern das unmittelbar vom
Geist und der Wahrheit ausgehende Händclsche Oratorium die Aufgabe un¬
serer Singakademie. Kirchenaufführungen gegen mäßiges Eintrittsgeld wür¬
den die größte Theilnahme im Publicum finden, und die Kräfte fester zusammen¬
halten als es jetzt bei fast völliger Untätigkeit oder gänzlich zerstreuten ziel¬
losen Treiben möglich ist. Alle Bedingungen sind in der Singakademie vor¬
handen, musikalische Kräfte und der ausgezeichnetste Dirigent; als Zweck und
Ziel solchen Unternehmens wurde neulich die Stiftung eines Bachdenkmals
vorgeschlagen — ich bin hier noch einmal darauf zurückgekommen, weil es
wol als eine gute Sache erscheint, die einer Beachtung vielleicht nicht ganz
unwerth ist.

Seitdem religiöses und Volksleben sich so völlig voneinander getrennt
haben, hat die Kirchenmusik, weil sie an dem ihr angeborenen Platz, in der
Kirche selbst, keine Pflege mehr fand, der weltlichen Musik gegenüber
mehr und mehr an Charakter und Selbstständigkeit verloren, und, um
wenigstens irgend eine Existenz zu behalten, jener nach in die Concertsäle sich
einschleichen müssen. Freilich erlangte sie hier höchstens Duldung, und
fristete ihr Dasein dadurch, daß sie nach und nach möglichst von der natür¬
lichen Höhe ihrer Idealität herniederstieg, ihre großen und strengen Formen
zum Schema herabsetzte, oder möglichst verweltlichte und verweichlichte, und
die ernsten Züge ihres Antlitzes nur hin und wieder als Larve aussteckte, um
dahinter oft genug reinwcltliche Sentimentalität, Ueberschwenglichkeit neben
Armuth an Größe und Kälte der Empfindung zu verbergen. Da trotz immer¬
hin mangelnder Klarheit die richtige Empfindung für eine Sache oder eine
Kunst, auch wenn diese selbst gesunken ist, im Menschen und im Volk doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/496>, abgerufen am 28.12.2024.