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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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beimessen, ein Glaube, von dessen Grundlosigkeit sie freilich schon längst die
Erfahrung überzeugt haben sollte.

Der Geist, der die jcrusalemer Protestanten mit wenigen Ausnahmen
durchweht, ist eine Zusammensetzung aus englischem Hochkirchenthum, jüdischem
Wesen und deutschem Pietismus, wozu sich in neuester Zeit noch ein bedenk¬
licher Chiliasmus gesellt hat, der in der Apokalypse das Hauptbuch des Neuen
Testaments zu sehen und die Träumereien Elliots als tiefe Wahrheiten zu be¬
trachten scheint. Man hat nicht genug an dem Gottesdienst in der Kirche
und hält darum jede Woche noch Betstunden in einem Privathause, wobei
außer den Geistlichen auch Laien sich mit Gebeten und Ermahnungen hören
lassen. Als Ursache dieser Einrichtung gab man mir folgendes an. Bekannt¬
lich brach im vorigen Jahre in Amerika wieder einmal eins jener "Revivals"
aus, welche die Gemüther der Yankees von Zeit zu Zeit erschüttern. Geist¬
liche und Laien wurden von dem religiösen Enthusiasmus wie von einer an¬
steckenden Krankheit erfaßt, von Grafschaft zu Grafschaft, Staat zu Staat
pflanzte sich der wilde Taumel fort. Advocaten, Commis, Weiber organisirten
sich zu großen Vetcrgesellschaftcn, schrien unter Zuckungen und Verrenkungen
Gott um Erbarmen mit ihrer Sündhaftigkeit an. weissagten von der Nähe
des jüngsten Gerichts und trieben allerlei andern gottesfürchtigen Unfug. 2"
Schottland entwickelte sich aus der Kunde hiervon eine ähnliche Epidemie.
In Jerusalem sah mau in diesem Wahnwitz einen besondern himmlischen
Segen, eine Art Ausgießung des heiligen Geistes, eine der "Wehen vor
der Wiederkunft des Herrn." Dazu kam die Meinung, daß die Welt in den
letzten Jahren auffallend gottloser geworden, dazu wieder die Gestaltung der
politischen und socialen Verhältnisse in Europa, der Aufgang des Napoleonischen
Sterns, der orientalische Krieg und zuletzt die drohenden Aspecten in Italien-
Man schien in dem Kaiser der Franzosen den Antichrist, mindestens seinen Vor¬
gänger zu erblicken, man sprach ausdrücklich davon, daß die Ausgießung der vor¬
letzten Zornschale der Offenbarung Johannis bevorstehe, die Parusie Christi nahe
vor der Thür sei. So bereitete man sich denn in jenen Convcntikeln. a"
welchen ich den Bischof mit allen übrigen Geistlichen der Gemeinde the'l-
nehmcn sah. auf das Ereigniß vor. ahmte bis auf weiteres das Thun der
Amerikaner nach und erwartete, daß demnächst auch hier die rechte Erweckung
beginnen werde. Wie sonst vollkommen verständige, durchaus ehrenwerthe
Männer in ein solches Treiben hineingerathen konnten, ist nur daraus erklär¬
lich, daß man hier von den großen Kreisen der Bildung entfernt und dem
Schauplatz der jüdischen Messiashoffnungen um so näher ist. In der That
ich dachte während der Gebete jenes Conventikels lebhaft an die oben be¬
schriebene Scene auf dem Klageplatz der Juden. Ich dachte aber auch noch
an etwas Anderes.


beimessen, ein Glaube, von dessen Grundlosigkeit sie freilich schon längst die
Erfahrung überzeugt haben sollte.

Der Geist, der die jcrusalemer Protestanten mit wenigen Ausnahmen
durchweht, ist eine Zusammensetzung aus englischem Hochkirchenthum, jüdischem
Wesen und deutschem Pietismus, wozu sich in neuester Zeit noch ein bedenk¬
licher Chiliasmus gesellt hat, der in der Apokalypse das Hauptbuch des Neuen
Testaments zu sehen und die Träumereien Elliots als tiefe Wahrheiten zu be¬
trachten scheint. Man hat nicht genug an dem Gottesdienst in der Kirche
und hält darum jede Woche noch Betstunden in einem Privathause, wobei
außer den Geistlichen auch Laien sich mit Gebeten und Ermahnungen hören
lassen. Als Ursache dieser Einrichtung gab man mir folgendes an. Bekannt¬
lich brach im vorigen Jahre in Amerika wieder einmal eins jener „Revivals"
aus, welche die Gemüther der Yankees von Zeit zu Zeit erschüttern. Geist¬
liche und Laien wurden von dem religiösen Enthusiasmus wie von einer an¬
steckenden Krankheit erfaßt, von Grafschaft zu Grafschaft, Staat zu Staat
pflanzte sich der wilde Taumel fort. Advocaten, Commis, Weiber organisirten
sich zu großen Vetcrgesellschaftcn, schrien unter Zuckungen und Verrenkungen
Gott um Erbarmen mit ihrer Sündhaftigkeit an. weissagten von der Nähe
des jüngsten Gerichts und trieben allerlei andern gottesfürchtigen Unfug. 2"
Schottland entwickelte sich aus der Kunde hiervon eine ähnliche Epidemie.
In Jerusalem sah mau in diesem Wahnwitz einen besondern himmlischen
Segen, eine Art Ausgießung des heiligen Geistes, eine der „Wehen vor
der Wiederkunft des Herrn." Dazu kam die Meinung, daß die Welt in den
letzten Jahren auffallend gottloser geworden, dazu wieder die Gestaltung der
politischen und socialen Verhältnisse in Europa, der Aufgang des Napoleonischen
Sterns, der orientalische Krieg und zuletzt die drohenden Aspecten in Italien-
Man schien in dem Kaiser der Franzosen den Antichrist, mindestens seinen Vor¬
gänger zu erblicken, man sprach ausdrücklich davon, daß die Ausgießung der vor¬
letzten Zornschale der Offenbarung Johannis bevorstehe, die Parusie Christi nahe
vor der Thür sei. So bereitete man sich denn in jenen Convcntikeln. a"
welchen ich den Bischof mit allen übrigen Geistlichen der Gemeinde the'l-
nehmcn sah. auf das Ereigniß vor. ahmte bis auf weiteres das Thun der
Amerikaner nach und erwartete, daß demnächst auch hier die rechte Erweckung
beginnen werde. Wie sonst vollkommen verständige, durchaus ehrenwerthe
Männer in ein solches Treiben hineingerathen konnten, ist nur daraus erklär¬
lich, daß man hier von den großen Kreisen der Bildung entfernt und dem
Schauplatz der jüdischen Messiashoffnungen um so näher ist. In der That
ich dachte während der Gebete jenes Conventikels lebhaft an die oben be¬
schriebene Scene auf dem Klageplatz der Juden. Ich dachte aber auch noch
an etwas Anderes.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/378>, abgerufen am 23.07.2024.