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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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neunte Quaderlage hinauf, deren von neunzehn Fuß Länget Noch ungeheurer
sind einzelne dieser behauenen Felsblöcke auf der Westseite, wo man unter
andern einen Eckstein antrifft, der in der Länge fast volle dreißig Fuß mißt.
Andere Argumente der Archäologen gehören nicht hierher. Die Säule Mo¬
hammeds, die aus der Ostmauer wie das Rohr einer Kanone hervorsteht'
und auf welcher er--eine eigenthümliche Vorstellung!--reiten wird, wenn
er die Welt richtet, ist ein Beweis, daß auch der Islam den Ort für einen
besonders heiligen hält. Noch wichtiger ist die Meinung der Juden über diese
Stätte. Sie sind fest überzeugt, daß die Mauer aus Salomos Zeit datirt,
und da sie zu allen Zeiten ein Geschlecht waren, das ein zähes Gedächtniß
für Äußerlichkeiten hatte, da der Tempel überdies ihr höchstes HeiligtlM
war und blieb, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihre Tradition echt ist.

Da ihnen der Eintritt in das Innere versagt ist, so haben sie sich
der Westseite, da. wo mehre aus der Mauer hervorstehende Steine den Be¬
ginn der alten Bogenbrücke vermuthen lassen, welche von Moriah nach der'
Terrasse des Hasmonäerpalastes auf den Zion führte, einen Ort ersehen, wo
sie sich alle Freitage des Nachmittags versammeln, um über den Fall Je^
Sateins zu klagen und die verheißene Zukunft, den Meschiach und die Wieder
aufrichtung des Reichs Davids herbeizurufen.

Als ich sie besuchte, waren etwa dreißig Männer und vielleicht ebenso
viele Frauen dort versammelt. Die Männer mit Ausnahme von zweien, welche
arabisch gekleidet waren, trugen die Tracht der polnischen Juden mit Kaftan'
Pelzmütze oder Spitzhut und langen Schläfenlocken; die Frauen waren >n
weite Mäntel von weißem Baumwollenstoff gehüllt, welche die ganze Gestüt
und einen Theil des Gesichts verbargen. Jene standen in Gruppen längs
der Mauer, diese saßen oder kauerten ein Stück davon auf dem Erdboden-
Alle hatten die Schuhe ausgezogen. Namentlich die Weiber sollen bisweilen
die wildesten, erschütterndsten Wehklagen ausstoßen. Diesmal aber verhielten
sie sich still, und auch die Männer unterschieden sich nicht wesentlich von einer
unserer Judenschulen in voller Gebetsarbeit. Man hörte das gewöhnliche
Murmeln, die bekannten Kehl- und Gurgellante, den üblichen zitternden 6>e'
sang, und nur bisweilen unterbrach ein besonders Ergriffener den Chor un
einem Wimmern durch die Nase oder einem gellenden Aufschrei. Einige hatten
die Stirn an die heiligen Steine gelegt, andere lasen oder sangen, taktmäM
mit dem rechten Fuß vortretend und sich verbeugend ihre Gebete ab.

Ich sah dem einen über die Schulter und fand, daß die hebräische Schrn
in seinem Buch mit Punctation versehen war. Er fragte, ob ichs lesen
könnte, und als ich dies bejahte, entspann sich ein Gespräch, an dem ba
mehre andere Theil nahmen. Ein junger Talmudgelehrter mit verschwommenen
Augen und einem verwüsteten blassen Gesicht, neben dem ihm fußlange rötlM'


neunte Quaderlage hinauf, deren von neunzehn Fuß Länget Noch ungeheurer
sind einzelne dieser behauenen Felsblöcke auf der Westseite, wo man unter
andern einen Eckstein antrifft, der in der Länge fast volle dreißig Fuß mißt.
Andere Argumente der Archäologen gehören nicht hierher. Die Säule Mo¬
hammeds, die aus der Ostmauer wie das Rohr einer Kanone hervorsteht'
und auf welcher er—eine eigenthümliche Vorstellung!—reiten wird, wenn
er die Welt richtet, ist ein Beweis, daß auch der Islam den Ort für einen
besonders heiligen hält. Noch wichtiger ist die Meinung der Juden über diese
Stätte. Sie sind fest überzeugt, daß die Mauer aus Salomos Zeit datirt,
und da sie zu allen Zeiten ein Geschlecht waren, das ein zähes Gedächtniß
für Äußerlichkeiten hatte, da der Tempel überdies ihr höchstes HeiligtlM
war und blieb, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihre Tradition echt ist.

Da ihnen der Eintritt in das Innere versagt ist, so haben sie sich
der Westseite, da. wo mehre aus der Mauer hervorstehende Steine den Be¬
ginn der alten Bogenbrücke vermuthen lassen, welche von Moriah nach der'
Terrasse des Hasmonäerpalastes auf den Zion führte, einen Ort ersehen, wo
sie sich alle Freitage des Nachmittags versammeln, um über den Fall Je^
Sateins zu klagen und die verheißene Zukunft, den Meschiach und die Wieder
aufrichtung des Reichs Davids herbeizurufen.

Als ich sie besuchte, waren etwa dreißig Männer und vielleicht ebenso
viele Frauen dort versammelt. Die Männer mit Ausnahme von zweien, welche
arabisch gekleidet waren, trugen die Tracht der polnischen Juden mit Kaftan'
Pelzmütze oder Spitzhut und langen Schläfenlocken; die Frauen waren >n
weite Mäntel von weißem Baumwollenstoff gehüllt, welche die ganze Gestüt
und einen Theil des Gesichts verbargen. Jene standen in Gruppen längs
der Mauer, diese saßen oder kauerten ein Stück davon auf dem Erdboden-
Alle hatten die Schuhe ausgezogen. Namentlich die Weiber sollen bisweilen
die wildesten, erschütterndsten Wehklagen ausstoßen. Diesmal aber verhielten
sie sich still, und auch die Männer unterschieden sich nicht wesentlich von einer
unserer Judenschulen in voller Gebetsarbeit. Man hörte das gewöhnliche
Murmeln, die bekannten Kehl- und Gurgellante, den üblichen zitternden 6>e'
sang, und nur bisweilen unterbrach ein besonders Ergriffener den Chor un
einem Wimmern durch die Nase oder einem gellenden Aufschrei. Einige hatten
die Stirn an die heiligen Steine gelegt, andere lasen oder sangen, taktmäM
mit dem rechten Fuß vortretend und sich verbeugend ihre Gebete ab.

Ich sah dem einen über die Schulter und fand, daß die hebräische Schrn
in seinem Buch mit Punctation versehen war. Er fragte, ob ichs lesen
könnte, und als ich dies bejahte, entspann sich ein Gespräch, an dem ba
mehre andere Theil nahmen. Ein junger Talmudgelehrter mit verschwommenen
Augen und einem verwüsteten blassen Gesicht, neben dem ihm fußlange rötlM'


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[0312] neunte Quaderlage hinauf, deren von neunzehn Fuß Länget Noch ungeheurer sind einzelne dieser behauenen Felsblöcke auf der Westseite, wo man unter andern einen Eckstein antrifft, der in der Länge fast volle dreißig Fuß mißt. Andere Argumente der Archäologen gehören nicht hierher. Die Säule Mo¬ hammeds, die aus der Ostmauer wie das Rohr einer Kanone hervorsteht' und auf welcher er—eine eigenthümliche Vorstellung!—reiten wird, wenn er die Welt richtet, ist ein Beweis, daß auch der Islam den Ort für einen besonders heiligen hält. Noch wichtiger ist die Meinung der Juden über diese Stätte. Sie sind fest überzeugt, daß die Mauer aus Salomos Zeit datirt, und da sie zu allen Zeiten ein Geschlecht waren, das ein zähes Gedächtniß für Äußerlichkeiten hatte, da der Tempel überdies ihr höchstes HeiligtlM war und blieb, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß ihre Tradition echt ist. Da ihnen der Eintritt in das Innere versagt ist, so haben sie sich der Westseite, da. wo mehre aus der Mauer hervorstehende Steine den Be¬ ginn der alten Bogenbrücke vermuthen lassen, welche von Moriah nach der' Terrasse des Hasmonäerpalastes auf den Zion führte, einen Ort ersehen, wo sie sich alle Freitage des Nachmittags versammeln, um über den Fall Je^ Sateins zu klagen und die verheißene Zukunft, den Meschiach und die Wieder aufrichtung des Reichs Davids herbeizurufen. Als ich sie besuchte, waren etwa dreißig Männer und vielleicht ebenso viele Frauen dort versammelt. Die Männer mit Ausnahme von zweien, welche arabisch gekleidet waren, trugen die Tracht der polnischen Juden mit Kaftan' Pelzmütze oder Spitzhut und langen Schläfenlocken; die Frauen waren >n weite Mäntel von weißem Baumwollenstoff gehüllt, welche die ganze Gestüt und einen Theil des Gesichts verbargen. Jene standen in Gruppen längs der Mauer, diese saßen oder kauerten ein Stück davon auf dem Erdboden- Alle hatten die Schuhe ausgezogen. Namentlich die Weiber sollen bisweilen die wildesten, erschütterndsten Wehklagen ausstoßen. Diesmal aber verhielten sie sich still, und auch die Männer unterschieden sich nicht wesentlich von einer unserer Judenschulen in voller Gebetsarbeit. Man hörte das gewöhnliche Murmeln, die bekannten Kehl- und Gurgellante, den üblichen zitternden 6>e' sang, und nur bisweilen unterbrach ein besonders Ergriffener den Chor un einem Wimmern durch die Nase oder einem gellenden Aufschrei. Einige hatten die Stirn an die heiligen Steine gelegt, andere lasen oder sangen, taktmäM mit dem rechten Fuß vortretend und sich verbeugend ihre Gebete ab. Ich sah dem einen über die Schulter und fand, daß die hebräische Schrn in seinem Buch mit Punctation versehen war. Er fragte, ob ichs lesen könnte, und als ich dies bejahte, entspann sich ein Gespräch, an dem ba mehre andere Theil nahmen. Ein junger Talmudgelehrter mit verschwommenen Augen und einem verwüsteten blassen Gesicht, neben dem ihm fußlange rötlM'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/312>, abgerufen am 23.07.2024.