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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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sen darf. Es wird gesagt, das Publicum könne kein ganzes Oratorium
aushalten. Das ist unbegründet. Wir haben oft genug in Halle die
entgegengesetzten Erfahrungen gemacht; überdies führt die Eutcrpe öfter
ganze Oratorien auf, und ich habe nie einen Menschen ungeduldig oder
unzufrieden sich äußern gehört -- im Gegentheil, der Saal ist nie mehr ge¬
füllt gewesen, wie bei solchen Aufführungen vollständiger Oratorien. Da>um
aber, vermöchte das Publicum in der That nicht, einem ganzen oratorischen
Werke zu folgen, so wäre das nur ein übles Zeichen von Vernachlässigung
und Mangel an Ernst; dadurch würde man sich aber wol nicht berechtigt
glauben, den festgeschlossenen Organismus eines Kunstwerkes, dessen Entwicke¬
lung und Schluß durch den Anfang, und umgekehrt, bedingt wird, zu zerrei¬
ßen, und blos den Kopf, oder die Füße, oder ein Mittelstück zuzurichten und
aufzutischen. Entweder ganz oder gar nicht; um bloße Feinschmeckern mit
sich treiben zu lassen, hat das Oratorium zu hohe Bedeutung. Unter
den zweiundzwanzig Concerten des Gewandhauses könnte man wol zwei zu
classischen Oratorienaufführungen bestimmen -- das Publicum würde Inter¬
esse daran gewinnen, und es nach und nach ohne Frage dankbar an¬
nehmen.

Warum gibt unsere Singakademie, deren Bestimmung es doch eigentlich
ist, keine eigenen Oratorienconcerte? Eine der ablehnenden Antworten ist, daß
das Gewandhausorchester, des Theaters wegen, niemals zu haben sei. Das
ist wahr, aber keineswegs Grund genug, um deshalb die ganze Sache auf'
zugeben; man kann sich mit geringeren Orchesterkrästen begnügen. Unsere
kleineren städtischen Musikchöre, aus denen auch die Euterpe größtentheils
zusammengesetzt ist. enthalten viele reckt brauchbare Musiker, die namentlich
wenn sie unter öftere Leitung des Siugakademiedircctors kämen, bald voll¬
kommen ihrem Zweck entsprechen würden. Es ist allerdings eine sast nach'
theilig zu nennende Folge unsrer bis auss äußerste getriebenen Orchestcrvirtuo-
sität, daß wenigstens ein großer Theil des Publicums eigentlich mehr auf die
virtuose Ausführung, wie auf das Werk selbst gibt; zwei Drittel im Publi¬
cum wenden ihre Aufmerksamkeit wenigstens ebenso viel auf die Aeußerlichkeit
der Ausführung, wie auf das"Werk selbst, auf seinen idealen Inhalt und desst"
Entwicklung. Ein einziger kleiner Fehler -- wie ungemein leicht, trotz der
vielleicht fleißigsten Studien, von einem rein äußerlichen 'Zufall herbeigerufen
wird, statt ignorirt zu werden, sorgsam beachtet, und womöglich mit dein
Nachbar ein bedeutsamer Blick ausgetauscht. Würden unserm Publicum öfter
große Werke ernsten, oratorischen Stiles vorgeführt (wenn auch die Ausfüh'
rung nicht immer auf der glänzendsten virtuosen Höhe stünde, tüchtig könnte
sie darum doch sein) -- wie würde der ganze Sinn und Geist für die kirchliche
Tonkunst im Volke nach und nach wieder gehoben werden! Und hieße das


sen darf. Es wird gesagt, das Publicum könne kein ganzes Oratorium
aushalten. Das ist unbegründet. Wir haben oft genug in Halle die
entgegengesetzten Erfahrungen gemacht; überdies führt die Eutcrpe öfter
ganze Oratorien auf, und ich habe nie einen Menschen ungeduldig oder
unzufrieden sich äußern gehört — im Gegentheil, der Saal ist nie mehr ge¬
füllt gewesen, wie bei solchen Aufführungen vollständiger Oratorien. Da>um
aber, vermöchte das Publicum in der That nicht, einem ganzen oratorischen
Werke zu folgen, so wäre das nur ein übles Zeichen von Vernachlässigung
und Mangel an Ernst; dadurch würde man sich aber wol nicht berechtigt
glauben, den festgeschlossenen Organismus eines Kunstwerkes, dessen Entwicke¬
lung und Schluß durch den Anfang, und umgekehrt, bedingt wird, zu zerrei¬
ßen, und blos den Kopf, oder die Füße, oder ein Mittelstück zuzurichten und
aufzutischen. Entweder ganz oder gar nicht; um bloße Feinschmeckern mit
sich treiben zu lassen, hat das Oratorium zu hohe Bedeutung. Unter
den zweiundzwanzig Concerten des Gewandhauses könnte man wol zwei zu
classischen Oratorienaufführungen bestimmen — das Publicum würde Inter¬
esse daran gewinnen, und es nach und nach ohne Frage dankbar an¬
nehmen.

Warum gibt unsere Singakademie, deren Bestimmung es doch eigentlich
ist, keine eigenen Oratorienconcerte? Eine der ablehnenden Antworten ist, daß
das Gewandhausorchester, des Theaters wegen, niemals zu haben sei. Das
ist wahr, aber keineswegs Grund genug, um deshalb die ganze Sache auf'
zugeben; man kann sich mit geringeren Orchesterkrästen begnügen. Unsere
kleineren städtischen Musikchöre, aus denen auch die Euterpe größtentheils
zusammengesetzt ist. enthalten viele reckt brauchbare Musiker, die namentlich
wenn sie unter öftere Leitung des Siugakademiedircctors kämen, bald voll¬
kommen ihrem Zweck entsprechen würden. Es ist allerdings eine sast nach'
theilig zu nennende Folge unsrer bis auss äußerste getriebenen Orchestcrvirtuo-
sität, daß wenigstens ein großer Theil des Publicums eigentlich mehr auf die
virtuose Ausführung, wie auf das Werk selbst gibt; zwei Drittel im Publi¬
cum wenden ihre Aufmerksamkeit wenigstens ebenso viel auf die Aeußerlichkeit
der Ausführung, wie auf das"Werk selbst, auf seinen idealen Inhalt und desst»
Entwicklung. Ein einziger kleiner Fehler — wie ungemein leicht, trotz der
vielleicht fleißigsten Studien, von einem rein äußerlichen 'Zufall herbeigerufen
wird, statt ignorirt zu werden, sorgsam beachtet, und womöglich mit dein
Nachbar ein bedeutsamer Blick ausgetauscht. Würden unserm Publicum öfter
große Werke ernsten, oratorischen Stiles vorgeführt (wenn auch die Ausfüh'
rung nicht immer auf der glänzendsten virtuosen Höhe stünde, tüchtig könnte
sie darum doch sein) — wie würde der ganze Sinn und Geist für die kirchliche
Tonkunst im Volke nach und nach wieder gehoben werden! Und hieße das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/172>, abgerufen am 22.07.2024.