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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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und von einem kindischen Spiel mit Schattenbildern abwenden, indem er ihr
zeigt, daß sie ihre Würde, mithin ihr wahres Glück, in sich selbst trägt. Daß
von einer durchgeführten Rechtfertigung der Vorsicht nicht die Rede sein kann,
hat er in den spätern Abhandlungen gezeigt, wo er jene Mystik bekämpft,
"die. was sie will, selber nicht versteht, sondern lieber schwärmt als sich, wie
es intellectuellen Bewohnern der Sinnenwelt geziemt, innerhalb der Grenzen
der eingeschränkten Vernunft zu halten."

Indem nun Schiller den Leitfaden, der eigentlich nur die Grenzen zwischen
der Speculation und dem positiven Wissen feststecken sollte, mit Hilfe seiner leb¬
haften Einbildungskraft ausfüllte, grade wie Charybde, Eisenhammer u. s. w.,
verfiel er offenbar in eine fehlerhafte Construction der Geschichte. In
dem Begriff der Construction selbst liegt aber etwas Richtiges, und Schiller
sagte mit Recht, daß der Geschichtschreiber, wenn er etwas Thatsächliches in
sich aufgenommen, nun den so gesammelten Stoff erst wieder aus sich heraus
zur Geschichte construiren müsse. "Eine Thatsache läßt sich ebenso wenig zu
einer Geschichte wie die Gesichtszüge eines Menschen zu einem Bildniß blos
abschreiben," und auch der Historiker wird den bescheidenen Titel, den Goethe
seiner Selbstbiographie vorsetzt, nicht ganz vermeiden dürfen. Im gegenwär¬
tigen Augenblick, bei der Schulgerechtem Methode der Forschung sträubt man sich
zwar dagegen, allein infolge dieser Selbstverleugnung sieht mitunter die Ge¬
schichte wirklich wie ein todtes Aggregat aus, von dem man nicht recht weiß,
wen es interessiren und wen es fördern soll. Jeder echte Geschichtschreiber con-
struirt d. h. er malt sich aus.den fragmentarischen Ueberlieferungen das ganze
Werk und ergänzt die Lücken durch Induction und Analogie. Es kommt nur
darauf an, welche Vorbildung er mitbringt. Zu den kühnsten Constructionen
der Geschichte, mehre zwanzig Jahre vor Schillers Vorlesungen, gehört Mösers
osnabrücksche Geschichte: aber einmal schöpfte Möser durchweg aus den Quellen,
er nahm also das Material, das er zu formen hatte, in seiner ursprünglichen
Gestalt; sodann ging er von einer praktischen Bildung aus. Ausgewachsen in
einer Landschaft, deren Sitten sich fast ein Jahrtausend erhalten hatten, se"'
tiree er sehr genau die Natur des Bauern und die Entstehung und Fortbil¬
dung der Institute, aus welche sich das Leben desselben beschränkt. Hier
war ihm jeder Zug vollkommen verständlich und indem er nach dem Bild
dieser einfachen Zustände die historischen Fragmente gestaltete, widerfuhr ihm
zwar zuweilen, daß er die Analogie ungebührlich ausdehnte, aber stets bringt
er ein erkennbares Bild zu Stande, das bis zu einem gewissen Grade die
Wirklichkeit erreicht, weil es vom Individuellen zum Allgemeinen geht. Schiller
und die spätern Philosophen verfahren anders: nirgend an den wirklichen
Zustünden eines geschlossenen Ganzen praktisch betheiligt und in dieselben ein¬
gelebt, construiren sie den Begriff der Menschheit nach den Trieben und Kräften


und von einem kindischen Spiel mit Schattenbildern abwenden, indem er ihr
zeigt, daß sie ihre Würde, mithin ihr wahres Glück, in sich selbst trägt. Daß
von einer durchgeführten Rechtfertigung der Vorsicht nicht die Rede sein kann,
hat er in den spätern Abhandlungen gezeigt, wo er jene Mystik bekämpft,
„die. was sie will, selber nicht versteht, sondern lieber schwärmt als sich, wie
es intellectuellen Bewohnern der Sinnenwelt geziemt, innerhalb der Grenzen
der eingeschränkten Vernunft zu halten."

Indem nun Schiller den Leitfaden, der eigentlich nur die Grenzen zwischen
der Speculation und dem positiven Wissen feststecken sollte, mit Hilfe seiner leb¬
haften Einbildungskraft ausfüllte, grade wie Charybde, Eisenhammer u. s. w.,
verfiel er offenbar in eine fehlerhafte Construction der Geschichte. In
dem Begriff der Construction selbst liegt aber etwas Richtiges, und Schiller
sagte mit Recht, daß der Geschichtschreiber, wenn er etwas Thatsächliches in
sich aufgenommen, nun den so gesammelten Stoff erst wieder aus sich heraus
zur Geschichte construiren müsse. „Eine Thatsache läßt sich ebenso wenig zu
einer Geschichte wie die Gesichtszüge eines Menschen zu einem Bildniß blos
abschreiben," und auch der Historiker wird den bescheidenen Titel, den Goethe
seiner Selbstbiographie vorsetzt, nicht ganz vermeiden dürfen. Im gegenwär¬
tigen Augenblick, bei der Schulgerechtem Methode der Forschung sträubt man sich
zwar dagegen, allein infolge dieser Selbstverleugnung sieht mitunter die Ge¬
schichte wirklich wie ein todtes Aggregat aus, von dem man nicht recht weiß,
wen es interessiren und wen es fördern soll. Jeder echte Geschichtschreiber con-
struirt d. h. er malt sich aus.den fragmentarischen Ueberlieferungen das ganze
Werk und ergänzt die Lücken durch Induction und Analogie. Es kommt nur
darauf an, welche Vorbildung er mitbringt. Zu den kühnsten Constructionen
der Geschichte, mehre zwanzig Jahre vor Schillers Vorlesungen, gehört Mösers
osnabrücksche Geschichte: aber einmal schöpfte Möser durchweg aus den Quellen,
er nahm also das Material, das er zu formen hatte, in seiner ursprünglichen
Gestalt; sodann ging er von einer praktischen Bildung aus. Ausgewachsen in
einer Landschaft, deren Sitten sich fast ein Jahrtausend erhalten hatten, se»'
tiree er sehr genau die Natur des Bauern und die Entstehung und Fortbil¬
dung der Institute, aus welche sich das Leben desselben beschränkt. Hier
war ihm jeder Zug vollkommen verständlich und indem er nach dem Bild
dieser einfachen Zustände die historischen Fragmente gestaltete, widerfuhr ihm
zwar zuweilen, daß er die Analogie ungebührlich ausdehnte, aber stets bringt
er ein erkennbares Bild zu Stande, das bis zu einem gewissen Grade die
Wirklichkeit erreicht, weil es vom Individuellen zum Allgemeinen geht. Schiller
und die spätern Philosophen verfahren anders: nirgend an den wirklichen
Zustünden eines geschlossenen Ganzen praktisch betheiligt und in dieselben ein¬
gelebt, construiren sie den Begriff der Menschheit nach den Trieben und Kräften


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/472>, abgerufen am 23.12.2024.