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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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sein von den Grenzen derselben bildet. Goethes prosaische Schriften sind dar¬
um classisch, weil er sich nie mit dem Wort begnügt, weil jeder Begriff bei
ihm eine individuelle Anschauung ausdrückt; darauf aber sich zu beschränken
,se Schüler stets unmöglich gewesen. Bei seinem außerordentlichen Talent, sich
das nie Gesehene auszumalen, z. B. eine Charybde, den Föhn u. s. w. traute
er seiner Eingebung zu viel zu und handelte in gutem Glauben, wenn er
auch das als wirklich vortrug, wovon er nicht das Mindeste wußte. Dies
Selbstvertrauen, das ihm später als Dichter sehr zu statten kam, machte seine
Stellung als Lehrer freilich sehr bedenklich.

Er begann seine Borlesungen mit dem Gegensatz des Vrodgelehrten und
des philosophischen Kopfes; den ersten schilderte er in einer Weise, daß man
es Heinrich kaum verargen kann, wenn er dem neuen philosophischen College"
das Prädicat eines Professors der Geschichte nach Kräften bestritt. Zudem
hat der Bergleich etwas Schielendes. Denn wenn Schiller im Anfang den
Vrodgelehrten so auffaßt, wie ihn der gewöhnliche Sprachgebrauch nimmt,
d. h. als denjenigen, der sich von der Wissenschaft nur das zum praktischen
Gebrauch unumgänglich Nothwendige aneignet, so schiebt er bald einen ganz
andern Begriff unter: der Brodgelehrte ist ihm der eigentliche Gelehrte, der
nach der Methode der strengen Wissenschaft in seiner gesonderten Sphäre fort¬
schreitet und den Zusammenhang derselben mit den übrigen Disciplinen außer
Acht läßt. "Ebenso sorgfältig als der Brodgelehrte seine Wissenschaft von
allen übrigen absondert, bestrebt sich der philosophische Kopf, ihr Gebiet zu
erweitern und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen; herzustellen
sage ich, denn nur der abstrahierte Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat
jene Wissenschaften voneinander geschieden." -- Es handelt sich also um die
Wiederherstellung jener harmonischen Bildung, wie sie die Griechen besaßen,
ehe die große Vermehrung des Materials eine Theilung der Arbeit nothwendig
machte.

Dieses Princip wendet Schiller nun auf die Geschichte an. Er schildert
die Errungenschaften der Gegenwart in den glänzendsten Farben, zum Theil
sehr übertrieben, und malt sich die Urzeit des Menschengeschlechts nach den
Berichten der Seefahrer über die Südseeinsulaner aus. Der ganze Umfang
der Weltgeschichte war nothwendig, um von der einen Stufe der Cultur zur
andern zu leiten. "Aus der ganzen Summe der Begebenheiten hebt der
Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der
Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, un-
widersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben."

Nun springt aber der Zusammenhang des Ganzen aus der Ueberlieferung
dem philosophischen Kopf nicht ohne weiteres in die Augen, im Gegentheil
erscheinen selbst die wichtigsten Ereignisse, wenn man sie nicht von der rend-


sein von den Grenzen derselben bildet. Goethes prosaische Schriften sind dar¬
um classisch, weil er sich nie mit dem Wort begnügt, weil jeder Begriff bei
ihm eine individuelle Anschauung ausdrückt; darauf aber sich zu beschränken
,se Schüler stets unmöglich gewesen. Bei seinem außerordentlichen Talent, sich
das nie Gesehene auszumalen, z. B. eine Charybde, den Föhn u. s. w. traute
er seiner Eingebung zu viel zu und handelte in gutem Glauben, wenn er
auch das als wirklich vortrug, wovon er nicht das Mindeste wußte. Dies
Selbstvertrauen, das ihm später als Dichter sehr zu statten kam, machte seine
Stellung als Lehrer freilich sehr bedenklich.

Er begann seine Borlesungen mit dem Gegensatz des Vrodgelehrten und
des philosophischen Kopfes; den ersten schilderte er in einer Weise, daß man
es Heinrich kaum verargen kann, wenn er dem neuen philosophischen College»
das Prädicat eines Professors der Geschichte nach Kräften bestritt. Zudem
hat der Bergleich etwas Schielendes. Denn wenn Schiller im Anfang den
Vrodgelehrten so auffaßt, wie ihn der gewöhnliche Sprachgebrauch nimmt,
d. h. als denjenigen, der sich von der Wissenschaft nur das zum praktischen
Gebrauch unumgänglich Nothwendige aneignet, so schiebt er bald einen ganz
andern Begriff unter: der Brodgelehrte ist ihm der eigentliche Gelehrte, der
nach der Methode der strengen Wissenschaft in seiner gesonderten Sphäre fort¬
schreitet und den Zusammenhang derselben mit den übrigen Disciplinen außer
Acht läßt. „Ebenso sorgfältig als der Brodgelehrte seine Wissenschaft von
allen übrigen absondert, bestrebt sich der philosophische Kopf, ihr Gebiet zu
erweitern und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen; herzustellen
sage ich, denn nur der abstrahierte Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat
jene Wissenschaften voneinander geschieden." — Es handelt sich also um die
Wiederherstellung jener harmonischen Bildung, wie sie die Griechen besaßen,
ehe die große Vermehrung des Materials eine Theilung der Arbeit nothwendig
machte.

Dieses Princip wendet Schiller nun auf die Geschichte an. Er schildert
die Errungenschaften der Gegenwart in den glänzendsten Farben, zum Theil
sehr übertrieben, und malt sich die Urzeit des Menschengeschlechts nach den
Berichten der Seefahrer über die Südseeinsulaner aus. Der ganze Umfang
der Weltgeschichte war nothwendig, um von der einen Stufe der Cultur zur
andern zu leiten. „Aus der ganzen Summe der Begebenheiten hebt der
Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der
Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, un-
widersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben."

Nun springt aber der Zusammenhang des Ganzen aus der Ueberlieferung
dem philosophischen Kopf nicht ohne weiteres in die Augen, im Gegentheil
erscheinen selbst die wichtigsten Ereignisse, wenn man sie nicht von der rend-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/468>, abgerufen am 23.12.2024.