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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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geübt, nicht entwickelt, und so lange mir das Bächlein Freude in meinem
engen Cirkel nicht versiegt, so werde ich von diesen, großen Ocean ein neid¬
loser und ruhiger Bewunderer bleiben."*) "Und dann glaube ich. daß jede
einzelne, ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die größte Menschen¬
gesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der größte Staat ist
ein Menschenwerk, der Mensch ist ein Werk der unerreichbaren großen Natur.
Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalls; aber der Mensch ist ein nothwendiges
Wesen; und durch was sonst ist ein Staat groß und ehrwürdig als durch die
Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft,
nur ein Gedankenwerk; aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst, und
der Schöpfer des Gedankens." 10. Dec. "Es fragt sich nur, ob die innere
Wahrheit nicht ebenso viel Werth hat als die historische. Daß ein Mensch
in solchen Lagen so empfindet, handelt und sich ausdrückt, ist ein großes, wich¬
tiges Factum für den Menschen; die innere Uebereinstimmung, die Wahrheit
wird gefühlt und eingestanden, ohne daß die Begebenheit wirklich vorgefallen
sein muß. In diesem Feld ist der Dichter Herr und Meister; der Geschicht¬
schreiber ist oft in den Fall gesetzt, diese wichtigere Art der Wahrheit seiner
historischen Nichtigkeit nachzusetzen, oder ihr mit einer gewissen Unbehilflichkeit
anzupassen, welches noch schlimmer ist. Ihm fehlt die Freiheit, mit der sich
der Künstler mit schöner Leichtigkeit und Grazie bewegt, und am Ende hat
er weder die eine noch die andere befriedigt." "Ich werde immer eine schlechte
Quelle für einen künftigen Geschichtsforscher sein, der das Unglück hat, sich an
mich zu wenden. Aber ich werde vielleicht auf Unkosten der historischen Wahr¬
heit hier und da mit jener ersten philosophischen zusammentreffen. Die Ge¬
schichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegen¬
stände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden."

Das letzte, geheime Ziel seiner Arbeiten war eine Eingliederung in die
bürgerliche Gesellschaft, ein Amt, um darauf eine Familie zu gründen. Lotte
war seine historische Muse; sie vermittelte durch Frau von Stein bei Goethe



") Dahin gehört noch ein Brief an Karoline, 26, März 1789: "Bei Ihrer Bewunderung
der schweizerischen Helden, mag wol eine kleine Vorliebe für das Land, das Sie in einer sehr
empfänglichen Epoche Ihres Geistes kennen lernten, mit unterlaufen. Ich mache den Schwei¬
zern die Tapferkeit und den Heldenmut!) nicht streitig, aber ich danke dem Himmel, daß ich
unter Menschen lebe, die einer so großen Handlung, wie die That des Winkelried ist, nicht
fähig find, Ohne das. was die Franzosen Krooitv nennen, kann man einen solchen Helden¬
mut!) nicht äußern; die Heftigkeiten, deren der Mensch in einem Zustand ohne Begeisterung
sähig ist, kann man der Gattung blos als Kraft, aber dem Individuum nicht recht als Große
anrechnen. Wenn ich Ihnen Beispiele ähnlicher Stärke des Muthes aus Religionskriegen an¬
führen wollte, so würden Sie diese und ähnliche Thaten vielleicht nur noch anstaunen, aber
nicht bewundern."
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geübt, nicht entwickelt, und so lange mir das Bächlein Freude in meinem
engen Cirkel nicht versiegt, so werde ich von diesen, großen Ocean ein neid¬
loser und ruhiger Bewunderer bleiben."*) „Und dann glaube ich. daß jede
einzelne, ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die größte Menschen¬
gesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der größte Staat ist
ein Menschenwerk, der Mensch ist ein Werk der unerreichbaren großen Natur.
Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalls; aber der Mensch ist ein nothwendiges
Wesen; und durch was sonst ist ein Staat groß und ehrwürdig als durch die
Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft,
nur ein Gedankenwerk; aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst, und
der Schöpfer des Gedankens." 10. Dec. „Es fragt sich nur, ob die innere
Wahrheit nicht ebenso viel Werth hat als die historische. Daß ein Mensch
in solchen Lagen so empfindet, handelt und sich ausdrückt, ist ein großes, wich¬
tiges Factum für den Menschen; die innere Uebereinstimmung, die Wahrheit
wird gefühlt und eingestanden, ohne daß die Begebenheit wirklich vorgefallen
sein muß. In diesem Feld ist der Dichter Herr und Meister; der Geschicht¬
schreiber ist oft in den Fall gesetzt, diese wichtigere Art der Wahrheit seiner
historischen Nichtigkeit nachzusetzen, oder ihr mit einer gewissen Unbehilflichkeit
anzupassen, welches noch schlimmer ist. Ihm fehlt die Freiheit, mit der sich
der Künstler mit schöner Leichtigkeit und Grazie bewegt, und am Ende hat
er weder die eine noch die andere befriedigt." „Ich werde immer eine schlechte
Quelle für einen künftigen Geschichtsforscher sein, der das Unglück hat, sich an
mich zu wenden. Aber ich werde vielleicht auf Unkosten der historischen Wahr¬
heit hier und da mit jener ersten philosophischen zusammentreffen. Die Ge¬
schichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegen¬
stände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden."

Das letzte, geheime Ziel seiner Arbeiten war eine Eingliederung in die
bürgerliche Gesellschaft, ein Amt, um darauf eine Familie zu gründen. Lotte
war seine historische Muse; sie vermittelte durch Frau von Stein bei Goethe



") Dahin gehört noch ein Brief an Karoline, 26, März 1789: „Bei Ihrer Bewunderung
der schweizerischen Helden, mag wol eine kleine Vorliebe für das Land, das Sie in einer sehr
empfänglichen Epoche Ihres Geistes kennen lernten, mit unterlaufen. Ich mache den Schwei¬
zern die Tapferkeit und den Heldenmut!) nicht streitig, aber ich danke dem Himmel, daß ich
unter Menschen lebe, die einer so großen Handlung, wie die That des Winkelried ist, nicht
fähig find, Ohne das. was die Franzosen Krooitv nennen, kann man einen solchen Helden¬
mut!) nicht äußern; die Heftigkeiten, deren der Mensch in einem Zustand ohne Begeisterung
sähig ist, kann man der Gattung blos als Kraft, aber dem Individuum nicht recht als Große
anrechnen. Wenn ich Ihnen Beispiele ähnlicher Stärke des Muthes aus Religionskriegen an¬
führen wollte, so würden Sie diese und ähnliche Thaten vielleicht nur noch anstaunen, aber
nicht bewundern."
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[0461] geübt, nicht entwickelt, und so lange mir das Bächlein Freude in meinem engen Cirkel nicht versiegt, so werde ich von diesen, großen Ocean ein neid¬ loser und ruhiger Bewunderer bleiben."*) „Und dann glaube ich. daß jede einzelne, ihre Kraft entwickelnde Menschenseele mehr ist als die größte Menschen¬ gesellschaft, wenn ich diese als ein Ganzes betrachte. Der größte Staat ist ein Menschenwerk, der Mensch ist ein Werk der unerreichbaren großen Natur. Der Staat ist ein Geschöpf des Zufalls; aber der Mensch ist ein nothwendiges Wesen; und durch was sonst ist ein Staat groß und ehrwürdig als durch die Kräfte seiner Individuen? Der Staat ist nur eine Wirkung der Menschenkraft, nur ein Gedankenwerk; aber der Mensch ist die Quelle der Kraft selbst, und der Schöpfer des Gedankens." 10. Dec. „Es fragt sich nur, ob die innere Wahrheit nicht ebenso viel Werth hat als die historische. Daß ein Mensch in solchen Lagen so empfindet, handelt und sich ausdrückt, ist ein großes, wich¬ tiges Factum für den Menschen; die innere Uebereinstimmung, die Wahrheit wird gefühlt und eingestanden, ohne daß die Begebenheit wirklich vorgefallen sein muß. In diesem Feld ist der Dichter Herr und Meister; der Geschicht¬ schreiber ist oft in den Fall gesetzt, diese wichtigere Art der Wahrheit seiner historischen Nichtigkeit nachzusetzen, oder ihr mit einer gewissen Unbehilflichkeit anzupassen, welches noch schlimmer ist. Ihm fehlt die Freiheit, mit der sich der Künstler mit schöner Leichtigkeit und Grazie bewegt, und am Ende hat er weder die eine noch die andere befriedigt." „Ich werde immer eine schlechte Quelle für einen künftigen Geschichtsforscher sein, der das Unglück hat, sich an mich zu wenden. Aber ich werde vielleicht auf Unkosten der historischen Wahr¬ heit hier und da mit jener ersten philosophischen zusammentreffen. Die Ge¬ schichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegen¬ stände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden." Das letzte, geheime Ziel seiner Arbeiten war eine Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft, ein Amt, um darauf eine Familie zu gründen. Lotte war seine historische Muse; sie vermittelte durch Frau von Stein bei Goethe ") Dahin gehört noch ein Brief an Karoline, 26, März 1789: „Bei Ihrer Bewunderung der schweizerischen Helden, mag wol eine kleine Vorliebe für das Land, das Sie in einer sehr empfänglichen Epoche Ihres Geistes kennen lernten, mit unterlaufen. Ich mache den Schwei¬ zern die Tapferkeit und den Heldenmut!) nicht streitig, aber ich danke dem Himmel, daß ich unter Menschen lebe, die einer so großen Handlung, wie die That des Winkelried ist, nicht fähig find, Ohne das. was die Franzosen Krooitv nennen, kann man einen solchen Helden¬ mut!) nicht äußern; die Heftigkeiten, deren der Mensch in einem Zustand ohne Begeisterung sähig ist, kann man der Gattung blos als Kraft, aber dem Individuum nicht recht als Große anrechnen. Wenn ich Ihnen Beispiele ähnlicher Stärke des Muthes aus Religionskriegen an¬ führen wollte, so würden Sie diese und ähnliche Thaten vielleicht nur noch anstaunen, aber nicht bewundern." 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/461>, abgerufen am 23.12.2024.