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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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der vielleicht zu vermeiden war, wenn du den Mangel an befriedigenden Nach¬
richten zuweilen durch Hypothesen ersetzt hättest. Er ist doch eigentlich der
Held der Geschichte, und je mehr man sich für ihn interessirt, desto mehr
wünscht man Aufschluß über sein ganzes Betragen. Hättest du wie Gibbon
zehn Jahre deines Lebens, in ungestörter Muße und mit allen Hilfsmitteln
versehen, dazu anwenden können, Materialien zu sammeln, zu verarbeiten
und darüber zu brüten, so würde dein Werk freilich einen höhern Grad von
Vollendung erreicht haben."")

Das sind ausschließlich künstlerische Gesichtspunkte; für Schillers histo¬
rischen Beruf ist es wichtig, seine unmittelbare Anschauung der politisch-histo¬
rischen Verwicklungen kennen zu lernen: auch hier spricht durchweg der Künstler.
"Wolzogens Urtheil über Paris, schreibt er 27. Nov. 1788, konnte wol nicht
anders ausfallen. Das Object ist ihm wirklich noch zu groß; sein innerer
Sinn muß erst dazu hinaufgestimmt werden . . . Wer Sinn und Lust für
die große Menschenwelt hat, muß sich in diesem weiten, großen Element ge¬
fallen; wie klein und armselig sind unsere politischen und bürgerlichen Ver¬
hältnisse dagegen! Aber freilich muß man Augen haben, die von großen Uebeln,
die unvermeidlich mit el.nflicßen, nicht geärgert werden. Der Mensch, wenn
er .vereinigt wirkt, ist immer ein großes Wesen, so klein auch die Indivi¬
duen und Details ins Auge fallen. Aber eben darauf kommt es an, jedes
Detail und jedes einzelne Phänomen mit diesem Rückblick auf das große
Ganze, dessen Theil es ist, zu denken, oder, was ebenso viel ist, mit philo¬
sophischem Geist zu sehen. Wie holpericht und höckericht mag unsere Erde
von dem Gipfel des Gotthards aussehn! aber die Einwohner des Mondes
sehn sie gewiß als eine glatte und schöne Kugel. Wer dieses Auge nun ent¬
weder nicht hat, oberes nicht geübt hat, wird sich an kleine Gebrechen stoßen
und das schöne große Ganze wird für ihn verloren sein." "Paris freilich
dürfte auch dem philosophischen Beobachter vielleicht einen widrigen Eindruck
geben; aber einen kleinen gewiß nie; denn auch die Nennungen eines so
feingebildeten Staats sind groß. Was für eine prächtige Erscheinung ist das
römische Reich in der Geschichte, auch bei seinem Untergang! Mir für meine
kleine stille Person erscheint die große politische Gesellschaft aus der Haselnu߬
schale, woraus ich sie betrachte, ungefähr so wie einer Raupe der Mensch vor¬
kommen mag, an dem sie herauskriecht. Ich habe einen unendlichen Respect
vor diesem großen drängenden Menschcnocean; aber es ist mir auch wohl
in meiner Haselnußschale. Mein Sinn, wenn ich einen dafür hätte, ist nicht



*) In demselben Brief nimmt sich Körner Klärchcns (im Egmont) gegen Schiller an, und
gesteht, daß auch ihm eine historische Arbeit vorschwebt: "wie wcirs, wenn ich mich über die
Fronde machte? Du mußt nicht lachen. Es wäre doch vielleicht möglich, daß etwas fertig
würde." Auch Huber war damals mit Förster eifrig in historischen Studien beschäftigt.

der vielleicht zu vermeiden war, wenn du den Mangel an befriedigenden Nach¬
richten zuweilen durch Hypothesen ersetzt hättest. Er ist doch eigentlich der
Held der Geschichte, und je mehr man sich für ihn interessirt, desto mehr
wünscht man Aufschluß über sein ganzes Betragen. Hättest du wie Gibbon
zehn Jahre deines Lebens, in ungestörter Muße und mit allen Hilfsmitteln
versehen, dazu anwenden können, Materialien zu sammeln, zu verarbeiten
und darüber zu brüten, so würde dein Werk freilich einen höhern Grad von
Vollendung erreicht haben."")

Das sind ausschließlich künstlerische Gesichtspunkte; für Schillers histo¬
rischen Beruf ist es wichtig, seine unmittelbare Anschauung der politisch-histo¬
rischen Verwicklungen kennen zu lernen: auch hier spricht durchweg der Künstler.
„Wolzogens Urtheil über Paris, schreibt er 27. Nov. 1788, konnte wol nicht
anders ausfallen. Das Object ist ihm wirklich noch zu groß; sein innerer
Sinn muß erst dazu hinaufgestimmt werden . . . Wer Sinn und Lust für
die große Menschenwelt hat, muß sich in diesem weiten, großen Element ge¬
fallen; wie klein und armselig sind unsere politischen und bürgerlichen Ver¬
hältnisse dagegen! Aber freilich muß man Augen haben, die von großen Uebeln,
die unvermeidlich mit el.nflicßen, nicht geärgert werden. Der Mensch, wenn
er .vereinigt wirkt, ist immer ein großes Wesen, so klein auch die Indivi¬
duen und Details ins Auge fallen. Aber eben darauf kommt es an, jedes
Detail und jedes einzelne Phänomen mit diesem Rückblick auf das große
Ganze, dessen Theil es ist, zu denken, oder, was ebenso viel ist, mit philo¬
sophischem Geist zu sehen. Wie holpericht und höckericht mag unsere Erde
von dem Gipfel des Gotthards aussehn! aber die Einwohner des Mondes
sehn sie gewiß als eine glatte und schöne Kugel. Wer dieses Auge nun ent¬
weder nicht hat, oberes nicht geübt hat, wird sich an kleine Gebrechen stoßen
und das schöne große Ganze wird für ihn verloren sein." „Paris freilich
dürfte auch dem philosophischen Beobachter vielleicht einen widrigen Eindruck
geben; aber einen kleinen gewiß nie; denn auch die Nennungen eines so
feingebildeten Staats sind groß. Was für eine prächtige Erscheinung ist das
römische Reich in der Geschichte, auch bei seinem Untergang! Mir für meine
kleine stille Person erscheint die große politische Gesellschaft aus der Haselnu߬
schale, woraus ich sie betrachte, ungefähr so wie einer Raupe der Mensch vor¬
kommen mag, an dem sie herauskriecht. Ich habe einen unendlichen Respect
vor diesem großen drängenden Menschcnocean; aber es ist mir auch wohl
in meiner Haselnußschale. Mein Sinn, wenn ich einen dafür hätte, ist nicht



*) In demselben Brief nimmt sich Körner Klärchcns (im Egmont) gegen Schiller an, und
gesteht, daß auch ihm eine historische Arbeit vorschwebt: „wie wcirs, wenn ich mich über die
Fronde machte? Du mußt nicht lachen. Es wäre doch vielleicht möglich, daß etwas fertig
würde." Auch Huber war damals mit Förster eifrig in historischen Studien beschäftigt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/460>, abgerufen am 23.12.2024.