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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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sich, gegen die Personen nach allen Seiten gerecht zu sein; durch eine ehrliche
Natur wird er leicht gewonnen, auch wo er ihren Lebensinhalt verwirft. --
Da die allgemeine Geschichtskenntniß damals viel weniger verbreitet war als
jetzt, so ist das Buch nicht blos interessant, als eine fruchtbare Vorstudie für
deu spätern Dramatiker, sondern es war auch nützlich für die allgemeine Bil¬
dung: es ist viel gelesen worden, seine Ueberzeugungen sind in das Fleisch
und Blut des Geschlechts übergegangen, und wenn wir jetzt im Stande
sind, viele einzelne Punkte richtiger zu beurtheilen, so werden wir den Zu¬
sammenhang zwischen dem Despotismus und der Bigotterie kaum richtiger
motiviren können. Der Despot, um einen großen Staat zu regieren, "kommt
durch Classification seiner Beschränkung zu Hilfe; er setzt eine Regel fest, wo¬
zu sich alle Individuen bekennen müssen; dies leistet ihm die Religion . . .
die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Willkür verwirrt den Herr¬
scher jetzt nicht mehr . . . das gemeinschaftliche Ziel des Despotismus und
des Priesterthums ist Einförmigkeit."

Das Buch selber wurde nicht weiter fortgesetzt; der Proceß Egmonts er¬
schien in der Thalia 1789, die Belagerung von Antwerpen war ein Lücken¬
büßer für die Hören 1795. Beide Stücke sind nur fragmentarisch angeknüpft,
in dem letzteren ist das sittliche Interesse bei Seite gelassen, der Unter¬
nehmungsgeist eines erfinderischen und standhaften Mechanikers wird verherrlicht.

"Ich widerrufe meine ehemaligen Aeußerungen nicht, schreibt Körner
Nov. 1788, als er die Geschichte der Niederlande gelesen hat.' Mir däucht,
daß du dich bei der Ausführung mehr für einzelne Charaktere und Situa¬
tionen, als für das Ganze begeistert hast. Auch begreife ich die Ursachen
wol. Die vorhandenen Materialien waren zum Theil im Widerspruch mit
deinem Ideal. Eine Zeit lang suchtest du durch weitere Nachforschungen diese
Widersprüche zu vereinigen. Aber endlich ermüdetest du in dieser Arbeit und
gabst in deiner jetzigen Lage die Hoffnung auf, deine höhern Forderungen zu
befriedigen. Du wolltest dem gesammelten Stoff die beste mögliche Form
geben und jede Gelegenheit nutzen, durch den Gehalt des Details für den
Verlust an Schönheit des Ganzen zu entschädigen. Ein anderes Hinderniß
war die Unparteilichkeit, die du dir zum Gesetz gemacht hattest. Das Inter¬
esse für die Niederländer wird geschwächt, weil du dir nicht erlaubst, das
Thörichte und Niedrige in ihrem Betragen zu entschuldigen. Dies ist beson¬
ders merklich in der Periode nach Granvellas Entfernung, wo überhaupt die
ganze Handlung stillsteht, wo man aufhört, für das Schicksal der Niederländer
besorgt zu sein, und wo ihre Großen, selbst Wilhelm nicht ausgenommen,
so sehr unsern Unwillen erregen, daß man geneigt wird, für Philipp Partei
zu nehmen. In Wilhelms Art zu handeln ist ein Schein von Inconsequenz,


Grenzten II. 1859. 57

sich, gegen die Personen nach allen Seiten gerecht zu sein; durch eine ehrliche
Natur wird er leicht gewonnen, auch wo er ihren Lebensinhalt verwirft. —
Da die allgemeine Geschichtskenntniß damals viel weniger verbreitet war als
jetzt, so ist das Buch nicht blos interessant, als eine fruchtbare Vorstudie für
deu spätern Dramatiker, sondern es war auch nützlich für die allgemeine Bil¬
dung: es ist viel gelesen worden, seine Ueberzeugungen sind in das Fleisch
und Blut des Geschlechts übergegangen, und wenn wir jetzt im Stande
sind, viele einzelne Punkte richtiger zu beurtheilen, so werden wir den Zu¬
sammenhang zwischen dem Despotismus und der Bigotterie kaum richtiger
motiviren können. Der Despot, um einen großen Staat zu regieren, „kommt
durch Classification seiner Beschränkung zu Hilfe; er setzt eine Regel fest, wo¬
zu sich alle Individuen bekennen müssen; dies leistet ihm die Religion . . .
die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Willkür verwirrt den Herr¬
scher jetzt nicht mehr . . . das gemeinschaftliche Ziel des Despotismus und
des Priesterthums ist Einförmigkeit."

Das Buch selber wurde nicht weiter fortgesetzt; der Proceß Egmonts er¬
schien in der Thalia 1789, die Belagerung von Antwerpen war ein Lücken¬
büßer für die Hören 1795. Beide Stücke sind nur fragmentarisch angeknüpft,
in dem letzteren ist das sittliche Interesse bei Seite gelassen, der Unter¬
nehmungsgeist eines erfinderischen und standhaften Mechanikers wird verherrlicht.

„Ich widerrufe meine ehemaligen Aeußerungen nicht, schreibt Körner
Nov. 1788, als er die Geschichte der Niederlande gelesen hat.' Mir däucht,
daß du dich bei der Ausführung mehr für einzelne Charaktere und Situa¬
tionen, als für das Ganze begeistert hast. Auch begreife ich die Ursachen
wol. Die vorhandenen Materialien waren zum Theil im Widerspruch mit
deinem Ideal. Eine Zeit lang suchtest du durch weitere Nachforschungen diese
Widersprüche zu vereinigen. Aber endlich ermüdetest du in dieser Arbeit und
gabst in deiner jetzigen Lage die Hoffnung auf, deine höhern Forderungen zu
befriedigen. Du wolltest dem gesammelten Stoff die beste mögliche Form
geben und jede Gelegenheit nutzen, durch den Gehalt des Details für den
Verlust an Schönheit des Ganzen zu entschädigen. Ein anderes Hinderniß
war die Unparteilichkeit, die du dir zum Gesetz gemacht hattest. Das Inter¬
esse für die Niederländer wird geschwächt, weil du dir nicht erlaubst, das
Thörichte und Niedrige in ihrem Betragen zu entschuldigen. Dies ist beson¬
ders merklich in der Periode nach Granvellas Entfernung, wo überhaupt die
ganze Handlung stillsteht, wo man aufhört, für das Schicksal der Niederländer
besorgt zu sein, und wo ihre Großen, selbst Wilhelm nicht ausgenommen,
so sehr unsern Unwillen erregen, daß man geneigt wird, für Philipp Partei
zu nehmen. In Wilhelms Art zu handeln ist ein Schein von Inconsequenz,


Grenzten II. 1859. 57
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[0459] sich, gegen die Personen nach allen Seiten gerecht zu sein; durch eine ehrliche Natur wird er leicht gewonnen, auch wo er ihren Lebensinhalt verwirft. — Da die allgemeine Geschichtskenntniß damals viel weniger verbreitet war als jetzt, so ist das Buch nicht blos interessant, als eine fruchtbare Vorstudie für deu spätern Dramatiker, sondern es war auch nützlich für die allgemeine Bil¬ dung: es ist viel gelesen worden, seine Ueberzeugungen sind in das Fleisch und Blut des Geschlechts übergegangen, und wenn wir jetzt im Stande sind, viele einzelne Punkte richtiger zu beurtheilen, so werden wir den Zu¬ sammenhang zwischen dem Despotismus und der Bigotterie kaum richtiger motiviren können. Der Despot, um einen großen Staat zu regieren, „kommt durch Classification seiner Beschränkung zu Hilfe; er setzt eine Regel fest, wo¬ zu sich alle Individuen bekennen müssen; dies leistet ihm die Religion . . . die unendliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Willkür verwirrt den Herr¬ scher jetzt nicht mehr . . . das gemeinschaftliche Ziel des Despotismus und des Priesterthums ist Einförmigkeit." Das Buch selber wurde nicht weiter fortgesetzt; der Proceß Egmonts er¬ schien in der Thalia 1789, die Belagerung von Antwerpen war ein Lücken¬ büßer für die Hören 1795. Beide Stücke sind nur fragmentarisch angeknüpft, in dem letzteren ist das sittliche Interesse bei Seite gelassen, der Unter¬ nehmungsgeist eines erfinderischen und standhaften Mechanikers wird verherrlicht. „Ich widerrufe meine ehemaligen Aeußerungen nicht, schreibt Körner Nov. 1788, als er die Geschichte der Niederlande gelesen hat.' Mir däucht, daß du dich bei der Ausführung mehr für einzelne Charaktere und Situa¬ tionen, als für das Ganze begeistert hast. Auch begreife ich die Ursachen wol. Die vorhandenen Materialien waren zum Theil im Widerspruch mit deinem Ideal. Eine Zeit lang suchtest du durch weitere Nachforschungen diese Widersprüche zu vereinigen. Aber endlich ermüdetest du in dieser Arbeit und gabst in deiner jetzigen Lage die Hoffnung auf, deine höhern Forderungen zu befriedigen. Du wolltest dem gesammelten Stoff die beste mögliche Form geben und jede Gelegenheit nutzen, durch den Gehalt des Details für den Verlust an Schönheit des Ganzen zu entschädigen. Ein anderes Hinderniß war die Unparteilichkeit, die du dir zum Gesetz gemacht hattest. Das Inter¬ esse für die Niederländer wird geschwächt, weil du dir nicht erlaubst, das Thörichte und Niedrige in ihrem Betragen zu entschuldigen. Dies ist beson¬ ders merklich in der Periode nach Granvellas Entfernung, wo überhaupt die ganze Handlung stillsteht, wo man aufhört, für das Schicksal der Niederländer besorgt zu sein, und wo ihre Großen, selbst Wilhelm nicht ausgenommen, so sehr unsern Unwillen erregen, daß man geneigt wird, für Philipp Partei zu nehmen. In Wilhelms Art zu handeln ist ein Schein von Inconsequenz, Grenzten II. 1859. 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/459>, abgerufen am 23.12.2024.